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A.Kretschmann: Eine Sozialkriminologin am CMB - Interview

October 27 

Mit der Veröffentlichung ihrer Dissertation und ihren neuen Projekten ist die Rechts- und Kriminalsoziologin Andrea Kretschmann in diesem Herbst vielbeschäftigt. Nach einer ersten Post-Doc-Stelle an der Universität Wien ist sie seit 2015 Forscherin am Centre Marc Bloch und erzählt im Interview von ihrem Interesse an rechts- und kriminalsoziologischen Themen und ihren Vergleichsstudien zu Österreich, Deutschland und Frankreich.

 

Bloch’Notes: „Kriminologie“ ist ein Fach, das am Centre Marc Bloch selten vertreten ist. Wie würden Sie diese Disziplin definieren?

Andrea Kretschmann: Kriminologie, breit definiert, ist die Lehre vom Verbrechen und von der Verbrechensbekämpfung. Es gibt verschiedene Strömungen und eine davon ist die sogenannte kritische Kriminologie, eine dabei auch explizit sozialwissenschaftliche Kriminologie. Die kritische Kriminologie schaut sich vor allem die Strafrechtinstitutionen an. Mich interessiert in loser Verbundenheit mit dieser Tradition weniger die TäterInnenperspektive als die Perspektive der Institutionen. In Deutschland ist die Kriminologie vor allem an die Rechtswissenschaft gebunden. Die sozialwissenschaftliche Perspektive muss bis heute stark um ihren Platz im wissenschaftlichen Diskurs kämpfen. Im angloamerikanischen Raum und in Frankreich ist das anders. Kriminologische Themen bearbeite ich als Soziologin allerdings meist grundlagensoziologisch. Ich sehe keinen Nutzen in einer Disziplin „Kriminologie“, hier stimme ich völlig mit der Diskussion in Frankreich überein.

BN: In Ihrer Dissertation, die gerade veröffentlicht wurde, geht es um die rechtliche Regulierung am Beispiel der Pflege älterer Menschen in Österreich.

AK: Ich habe mir ArbeitgeberInnen, die zuvor irregulär beschäftigt haben und irregulär Beschäftigte in der häuslichen Pflege angeschaut. In der Arbeit ging es darum, zu erfahren, was diese Akteure dazu bringt, sich an neu entstehende rechtliche Rahmenbedingungen zu halten. Es gibt nämlich viele Theorien, die sich damit beschäftigen, warum Menschen sich nicht an rechtliche Vorgaben halten, aber nur ganz wenige, die fragen, warum sie sich an das Recht anpassen. Gerade der Pflegebereich ist ein Segment im Arbeitsmarkt, in dem Arbeit nicht nur ethnisiert und vergeschlechtlicht, sondern auch gering bezahlt und gering formalisiert ist. Daher wird dort sehr liberal reguliert und Rechtskonformität ist nicht selbstverständlich. In Deutschland zum Beispiel funktionieren Regulierungen aufgrund liberaler Gesetzgebungen oft sehr schlecht. Wie Recht im Alltag und damit ‚von unten‘ wirksam wird, ist eine völlig unterbelichtete Perspektive. Meine Forschung soll einen Beitrag zu diesem Desiderat leisten.

BN: In Ihren Publikationen beschäftigen Sie sich mit dem Zusammenhang zwischen Recht und Gesellschaft, zum Beispiel im Falle des für Deutschland, Frankreich und viele weitere Länder sehr aktuellen Themas: den Terrorismusgesetzen.

AK: Kriminalpolitiken unterliegen seit 9/11 einem starken Wandel. Viele Faktoren spielen hier hinein. Ich habe mich für Österreich u. a. mit der Frage beschäftigt, warum Anti-Terrorismusgesetze verschärft werden, obwohl es dort eigentlich keinen Terrorismus gibt. Ich habe hierbei verfolgt, wie Wissen auf Reisen geht. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Vorfälle oder verschärfte Gesetzgebungen in anderen europäischen Ländern Anlass dafür sind, die Gesetze im eigenen Land zu ändern.

BN: Wie schätzen Sie die französische Situation zu diesem Thema ein?

AK: Frankreich erlebt gerade eine extreme Situation, als erstes Land in Europa erlebt es ein Comeback des Terrorismus, eines spezifisch globalisierten. Das ist ein reales Problem, dem begegnet werden muss. Was ich jedoch auch beobachte, das sind Nebeneffekte, die aus Verquickungen der Antiterrorismusgesetzgebung mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen im Kriminaljustizsystem resultieren: Mit der Antiterrorismusgesetzgebung bekommen viele Organe des Kriminaljustizsystems erweiterte Eingriffsbefugnisse. Je länger es diese gibt, desto mehr werden sie auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen. Auf einmal werden, wie in Frankreich vor dem Sommer, Antiterrorismusmaßnahmen eingesetzt, um beispielweise Demonstrationen einer großen Gewerkschaft gegen das Loi Travail zu untersagen. Oder es werden auf Grundlage des État d’urgence Menschen ohne richterliche Kontrolle unter Hausarrest gestellt. Dadurch entstand in Frankreich eine Tendenz zur Kriminalisierung von Versammlungen und Meinungsäußerungen – eine demokratiepolitisch problematische Entwicklung.

BN: Ein weiteres Beispiel für diesen Zusammenhang zwischen Recht und Gesellschaft ist das Thema Strafvollzug. In Deutschland scheint die politische Debatte dazu allerdings sehr ruhig.

AK: Im Gegensatz zu Frankreich gibt es einfach keine Debatte. In Deutschland gibt es eine Kluft zwischen dem, was politisch getan wird und den Ergebnissen der WissenschaftlerInnen, die sich mit dem Strafvollzug beschäftigen. WissenschaftlerInnen sind mehrheitlich der Meinung, dass offene Formen des Strafvollzugs viel wirksamer bei der Prävention von Rückfällen sind. Gleichzeitig stellt man eine Rücknahme des offenen Vollzugs fest, der in Deutschland ohnehin schon wenig angewandt wird. Insgesamt gibt es in Deutschland wenig sozialwissenschaftliche Forschung zum Strafvollzug. Die aber könnte die gesellschaftspolitische Debatte bereichern.

BN: Welchen Vorteil bringt Ihnen für diese Fragestellungen die deutsch-französische Perspektive, die vom Centre Marc Bloch angeboten wird?

AK: Meine Perspektive ist eigentlich die des deutschsprachigen Kontextes, weil ich sowohl in Deutschland als in Österreich wissenschaftlich gearbeitet habe und in beiden Ländern zu Hause bin. Der französische Wissenschaftskontext ist für mich aber schon immer wichtig gewesen, weil ich in meiner soziologischen Arbeit unter starker Bezugnahme auf die französische Philosophie und Sozialwissenschaft arbeite. Deswegen ist es für mich sehr spannend, ans CMB zu kommen. Was mich an der französischsprachigen Sozialwissenschaft interessiert, ist der – im weiten Sinne verstanden – kulturtheoretische Blickwinkel: dass Fragen von Macht, Wissen, Wissenszirkulation diskutiert werden und zwar mit Blick auch auf deren gesellschaftspolitische Brisanz. Mit diesem Stil Wissenschaft zu betreiben, kann ich sehr viel anfangen.

Interview geführt von Sébastien Vannier

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Bloch'Notes


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Sébastien Vannier
sebastien.vannier  ( at )  cmb.hu-berlin.de