Leben am Centre

SOMMERINTERVIEW mit Markus Messling

27. Juli 

Sie können das komplette Sommerinterview mit Markus Messling im Anhang als PDF-Dokument herunterladen.

Im Zentrum: Markus Messling

Das Interview wurde von Hannes Käckmeister geführt.


Markus Messling, seit Juni 2015 stellvertretender Direktor am Centre Marc Bloch, hat Romanistik, Germanistik und Komparatistik in Berlin und Lyon studiert und in Romanischer Philologie an der FU Berlin promoviert. Im Januar 2015 wurde Markus Messling an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam habilitiert, wo er bis 2014 die Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Philologie und Rassismus im 19. Jh.“ geleitet hat und romanische Kultur- und Literaturwissenschaft lehrt. Gemeinsam mit Franck Hofmann ist Markus Messling seit 2011 zudem Sprecher des internationalen Forschungsprojekts „Transmed! Pensée méditerranéenne et conscience européenne“ (Forschungsabteilung DFJW). Aus dieser Zusammenarbeit ist die Anthologie „Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne“ entstanden, die Anfang Mai dieses Jahres im Kulturverlag Kadmos Berlin veröffentlicht wurde.


Was verbinden Sie als Philologe mit dem Wort „Zentrum – Centre“?

Markus Messling: Zentrum leitet sich von Lateinisch „centrum“, „Mittelpunkt“, ab und ist natürlich für die europäische Philologie ein ganz wichtiges Konzept. Jahrhundertelang hat philologische Praxis über die Pflege eines kanonischen Texterbes den Bezug zum politischen und ideellen Zentrum des lateinischen Reiches, zu Rom, hergestellt, sein normatives Erbe verwaltet und die Übertragungen in die neuen Machtformen legitimiert. Translatio imperii ist hier das Stichwort. Ich denke etwa an die Kraft der Aeneis-Erzählung oder an die Tradition der Belles-Lettres in Frankreich. Andererseits waren es philologische Leistungen und Erkenntnisse – wie die Rückgewinnung antiker Philosophie, das Bewusstsein sprachlich-begrifflicher Differenz in der Begegnung mit den Amerikas nach 1492, oder die Bibelhermeneutik –, welche kulturelle Zentrierung in Europa immer stärker in Frage gestellt und Pluralisierungsprozesse mit herbeigeführt haben. Im politischen Zusammenbruch der genealogischen Gesellschaftsordnung nach 1789 wird dann das große Projekt einer modernen, sich von der biblischen Hilfswissenschaft emanzipierenden Philologie institutionalisiert. Ihr Aufstieg zur „Leitwissenschaft“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht auch auf die obsessive Suche nach neuen Ursprüngen für „Europa“ zurück. So ist die moderne Philologie ein wichtiges Feld identitätspolitischer Verhandlung Europas gewesen. Sie hat einerseits dazu beigetragen, Europas Selbstverständnis als imperiales Zentrum zu stärken, andererseits aber auch wichtige Denker hervorgebracht, die dieses Selbstverständnis kritisiert haben. Diesen Komplex habe ich in den letzten Jahren im Rahmen meiner Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Philologie und Rassismus im 19. Jahrhundert“ zusammen mit meinen Doktoranden bearbeitet.

 

Der Bezug zum Mittelmeer bleibt von Bedeutung

 

Im Mai dieses Jahres haben Sie gemeinsam mit dem Komparatisten Franck Hofmann den Band Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne veröffentlicht. Worum geht es?

Die großen Erzählungen, die ich erwähnte und die wesentlich von der Philologie mitkonstruiert worden sind, haben zwar eine wichtige Rolle in der Gründung der modernen Nationalstaaten gespielt, aber gleichzeitig Europa über alle politischen Differenzen hinweg auch strukturell geeint. Verbindendes lag in der Griechenlandbegeisterung und im klassizistischen Humanismus, aber auch in der Vorstellung einer indoeuropäischen Sprach- und Kulturgenealogie, die ihren Höhepunkt angeblich in Europa fände. Natürlich wurden diese Erzählungen bereits seit dem 19. Jahrhundert auch in Frage gestellt, ein herausragendes Beispiel ist hier der Philologe Friedrich Nietzsche. In den Weltkriegen bricht dann das humanistische Menschenbild endgültig zusammen. Eine zentrale Frage für viele Intellektuelle war daher, wie man den ‚Menschen‘ neu denken, vor allem, wie man ihn nach der Erfahrung exzessiver Gewalt mäßigen kann. So gibt es in der Zeit zwischen den 30er und 50er Jahren Schriftsteller, Philosophen und Intellektuelle, die sich wieder dem Mittelmeer zuwenden, in der Suche nach einem Denken des Maßes und der Harmonie. Daraus sind jene Texte hervorgegangen, die wir in unserer Anthologie versammelt haben. Sie zeigen eine Erschütterung, Desillusionierung, denn im Zeichen forcierter Modernisierung und des Kolonialismus kann ihnen das „Griechentum“ nicht mehr schlicht als Vorbild einer längst globalisierten Menschheitskultur dienen. Dennoch bleibt der Bezug zum Mittelmeer fundamental. Er lässt sich als Konfrontation der Autoren mit einem ‚leeren Zentrum‘ beschreiben: Ihre Hoffnung auf eine Ordnung des Maßes oder das Versprechen einer ursprünglichen Vitalität sind unwiderruflich zerbrochen. Zugleich sind ohne diesen Bezug jedoch ihre ästhetischen und anthropologischen Reflexionen nicht denkbar, die darauf zielen die Stellung des ‚Menschen‘ in der globalisierten Welt neu zu bestimmen. Diese historischen Suchbewegungen scheinen mir von einer große Aktualität: Muss sich Europa nicht auch heute mit Blick auf den Süden neu entwerfen? Die gegenwärtig zu konstatierende ökonomistische Einengung des Blicks auf Europa hat diesen Zusammenhang geradezu verschleiert. Das ist Teil der Krise, die wir durchlaufen.

Können Sie diese historische Erfahrung anhand eines Beispiels konkret beschreiben?

Nehmen wir etwa den jungen Roland Barthes, der 1938, also als Student, mit seiner an der Sorbonne gegründeten „Groupe de théâtre antique“ nach Griechenland reist. Barthes ist am französischen Zentralismus und seiner strukturellen Macht geschult, und daher ist es vielleicht weniger erstaunlich, dass er in seinem Essay „En Grèce“ ein dezentriertes Griechenland beschreibt, das eine Welt von Inseln ist, die in netzartigen Bezügen zueinander stehen und immer in Bewegung scheinen. Nicht Athen, sondern die Insel Delos ist für ihn der Ort, an dem die Geburt des Logos nachvollziehbar wird. Aber gleichzeitig verspürt er in Delos’ gleißendem Licht wie ein „Brandmal“ – das ist seine Metapher – die Erfahrung, dass in der Erfindung des Geistes die Leiblichkeit ausgeschlossen ist. Barthes‘ Griechenland ist also kein Ort der Rezentrierung, keine Verankerungsphantasie, sondern eine Reise-Erfahrung, in der alle Momente seiner späteren Kritik aufscheinen: die Verschiebung der Zeichen, die Dekonstruktion des Logos als reiner Vernunft, die Resistenz des Leiblichen, und die Entleerung des  Zentrums – Theoreme, die er später Im Reich der Zeichen, also in seinem zeichentheoretischen, Japan-inspirierten Essay aus dem Jahr 1970 wieder aufnehmen sollte. Seine Inspektion des Reichs der Zeichen ist eine Kritik des Eurozentrismus, wie jedes Denkens, das sich in narzistischer Selbstzentrierung verfängt.

Sind in Ihrem Band auch Schriften von der anderen Seite des Mittelmeeres zu lesen?

In der Tat versammelt unsere Anthologie auch Texte von Schriftstellern und Intellektuellen von der anderen Seite des Mittelmeeres, wie Taha Hussein, Amir Shakib Arslan oder Léopold Sédar Senghor, die in den verschiedenen Befreiungsbewegungen Positionen beziehen. Die Desillusionierung des zentrierten Humanismus ist bei diesen Denkern durch Konfrontationen mit einer kolonialen Realität bedingt, in der die Méditerranée weder als humanistisches noch als universell gültiges Zentrum Bestand haben konnte. Deshalb sind auch Versuche, die etwa Fernand Braudel in den 40er Jahren unternimmt, um die Méditerranée noch einmal in einer Totalität zu rekonstruieren, sehr fraglich. Interessanter erscheinen uns da realistische Beschreibungen der Eingebundenheit mittelmeerischer Gesellschaften in ‚globale‘ Handelsbeziehungen, wie sie S.D. Goitein für die mittelalterliche jüdische Gemeinde zwischen Kairo und dem Jemen rekonstruiert.

In der Auswahl unserer Texte lassen wir „Realismus“ als ein Erkenntnisprinzip sichtbar werden, das in je eigener Weise auch die Positionen von Giorgos Seferis, Anna Seghers oder etwa Marguerite Yourcenar ausmacht.  Ausgehend von dem alexandrinischen Dichter Konstantinos Kavafis’, dessen einflussreichen Stil Yourcenar als „lässigen Realismus“ bezeichnet, macht Yourcenar ein Verständnis des griechischen Erbes stark, das den „Hellenismus aus weißem Marmor“  verabschiedet. Das Ziel griechischer Kulturbestrebungen liegt für sie gerade in der hellenistischen Dezentrierung, für die der Alexandriner Kavafis steht. Der Kosmopolitismus, den er verkörpert, ist kein normativer mehr, sondern geht aus einer Haltung gegenüber historischer und ethnischer Vielschichtigkeit hervor. Kavafis’ Nostalgie ist nämlich kein reaktionärer Gestus, sondern ein Wissen, eine Haltung, in der die Spannung zwischen dem Verlust einer Welt und ihrer Wirklichkeit ausgehalten wird. Dieser realistische Kosmopolitismus scheint mir in Bezug auf die Prozesse einer globalisierten Méditerranée, die wir heute erleben, sehr interessant. Ihn genauer herauszuarbeiten ist lohnend.

 

Leeres Zentrum, volles Zentrum

 

Auf welchem Weg sind Sie ans Centre Marc Bloch gekommen und inwieweit stellt diese deutsch-französische Forschungseinrichtung ein „Zentrum“ für Sie da?

Das Centre Marc Bloch kenne ich schon sehr lange, sowohl aus der Perspektive eines Berliner Doktoranden, der in Kontakt mit französischen Forschern kommen wollte, als auch aus einer Pariser Perspektive – ich war als Postdoktorand und später als Gastprofessor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales und habe dort die Bedeutung des CMB als Anlaufstelle für französische Forscher in Berlin erfahren. Auch wenn ich selber nie hier assoziiert war, ist mir die Relevanz des Zentrums als Schnittstelle also sehr bewusst. Interessanter Weise sind meine engeren Kontakte zum Centre dann auch über die Pariser Begegnungen gewachsen, was vielleicht auch disziplinäre Gründe hat: Das Centre war für mich seinerzeit nicht unbedingt eine zentraler Anlaufstelle in Berlin für literaturwissenschaftliche Forschung. Aber über gemeinschaftliche Interessen mit Pariser KollegInnen etwa im Bereich der Epistemologie und Geschichte der Philologie ist auch der Kontakt zu Forschern am Centre entstanden. Genau in diesem Sinne stellt das CMB für mich ein Zentrum dar: Es bietet ja nicht nur einzigartige Chancen für interdisziplinären Austausch, sondern verwebt in Form von Projekten und Forscherbiografien deutsche und französische Traditionen der Methodologie und Theoriebildung in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen. Und genau dies ist eine Erfahrung die für meine eigene Entwicklung sicher zentral war.

Sie stehen am Anfang Ihrer Amtszeit: Was haben Sie auf kurze und lange Sicht an Projekten vor?

Natürlich möchte ich gern die literaturwissenschaftliche Forschung am Centre stärken, und denke hier vor allem an Projekte zur literarischen Anthropologie, die Schnittflächen zu anderen am CMB vertretenen Disziplinen bieten, etwa der Anthropologie oder Philosophie. Dass die textbasierten Wissenschaften „soft sciences“ seien, also so etwas wie kulturelle Ausstaffierungen der Bereiche, in denen eigentlich Mensch und Weltbezug verhandelt werden, ist ja eine junge Annahme und eine Konsequenz aus der Devaluation der Literatur gegenüber anderen Medien. Dabei ist die Literatur ein zentraler Bereich, aus dem heraus die ästhetische und gesellschaftliche Gestaltung der Welt verstanden werden kann, in der wir leben und handeln. Ästhetik meint dabei nicht einfach das Schöne, sondern mit Jacques Rancière die eminent politische Frage, wie Mensch und Welt in Bedeutungsregime gesetzt, also verhandelbar werden. Insofern gehört die Literaturwissenschaft unbedingt zum Verständnis der sozialen Welt dazu, auch wenn sich ihre Empirie auf Textmaterial stützt.

Seit einiger Zeit interessieren mich etwa die narratologischen und ästhetischen Strategien, mit denen die Literatur und die Künste der Moderne auf Gewalterfahrungen bewusst oder unbewusst reagieren. Ich selbst arbeite über französischsprachige, italienische und deutsche Literatur, leider spreche und lese ich etwa kein Arabisch oder Türkisch. Das sage ich, weil es mir relevant erscheint, wie im gesamten Mittelmeerraum Entmächtigungs-, Flucht- und Gewalterfahrungen artikuliert werden. Der Austausch hierüber sollte gestärkt werden. Denn die Künste haben hier eine politische Funktion, die auch die anthropologischen Strukturen von Gewalt sichtbar, nachvollziehbar machen. Bataille und Bolaño würden zudem sagen: überschreitbar werden lassen. Dies ist natürlich mit der Tatsache zusammenzudenken, dass sich in den Umbruchsprozessen, die gegenwärtig im Mittelmeer statthaben oder dort sichtbar werden, Probleme unserer kapitalistischen Ordnung manifestieren. Ich denke daher auch an ein interdisziplinäres Projekt zu einem globalisierten Mittelmeer. Dieses hätte sich auf einer übergeordneten Ebene der Frage zu widmen, wie Forschung nach dem europäischen Universalismus in der praktischen Kooperation neue Formen gemeinsamer Erkenntnis finden kann. Inmitten der kulturalistischen Deutung von Konflikten scheint mir dies ganz zentral: Universalität ‚von unten‘ neu zu denken und zu erfahren.


  • Am 13.07.2015 war Markus Messling im Deutschlandradio Kultur zu hören: „Das Mittelmeer als Zentrum unseres Schicksals“. Der Beitrag ist < hier >  abrufbar.
  • Weitere Informationen zu der in diesem Interview thematisierten Anthologie „Leeres Zentrum. Das Mittelmeer und die literarische Moderne“ gibt es unter dem Reiter „Publikationen“ auf unserer Internetseite

 


Kontakt:

Markus Messling
messling  ( at )  cmb.hu-berlin.de