Leben am Centre

Sommerinterview mit Xavier Bougarel

11. August 

Sie können das komplette Sommerinterview mit Xavier Bougarel im Anhang als PDF-Dokument herunterladen.

Bosnien-Herzegowina: zu viel Vergangenheit, zu wenig Zukunft?

Das Interview wurde von Hannes Käckmeister geführt.


Xavier Bougarel ist Forscher am CNRS, war von 1999 bis 2013 an das „Centre d’études turques, ottomanes, balkaniques et centre-asiatiques“ (CETOBAC) in Paris angegliedert und ist seit September 2013 am Centre Marc Bloch. In diesem Sommerinterview teilt er mit uns seine Gedanken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des multiethnischen Staates Bosnien-Herzegowina.


 

Am 11. Juli wurde zum 20. Jahrestag des Massakers von Srebrenica, dem schlimmsten Kriegsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, den Opfern gedacht. Zu diesem Anlass fand eine öffentliche Gedenkveranstaltung in Potočari, nahe Srebrenica, statt. Inwieweit ist der Krieg im heutigen Bosnien-Herzegowina noch immer präsent?

Xavier Bougarel: Die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Massakers ist jedes Jahr ein großes Ereignis, wie auch der Gedenkmarsch nach Srebrenica, der drei bis vier Tage dauert und an dem Tausende von Leuten teilnehmen. Das Gedenken an das Massaker von Srebrenica bleibt jedoch konfliktträchtig. Das zeigen etwa die Reaktionen einiger Besucher der Trauerfeier auf die Präsenz des serbischen Regierungschefs Aleksandar Vučić im Gedenkzentrum von Potočari. Die Teilnehmer verliehen ihrem Unmut mit Steinwürfen in Richtung Vučićs Ausdruck. In ganz Bosnien-Herzegowina werden Gedenktage begangen und Monumente errichtet, die eine Vielfalt von Gedächtniskonflikten wiederspiegeln. Mir scheint es, dass dieses Gedenken und diese Monumente nur dann einen Kriegsausgang ermöglichen, wenn der Rückbezug zur Vergangenheit sich auf bestimmte Räume und bestimmte Zeiten begrenzt. Aktuell ist die Vergangenheit in der bosnischen Gesellschaft jedoch omnipräsent. Das ist zum Teil auf die gut gemeinten Ratschläge der internationalen Gemeinschaft zurückzuführen, in denen die Notwendigkeit hervorgehoben wird, „sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen“. Dazu braucht es jedoch zu allererst eine Zukunft, was die Geschichte Europas nach 1945 zeigt. In Bosnien-Herzegowina lasten aber weiterhin starke Unsicherheiten auf der politischen Zukunft des Landes und auf dem konkreten Alltag seiner Bewohner.

 

Das ‚komšiluk‘ war vor dem Krieg der Regelfall

Vielleicht können wir zuvor doch noch einmal einen Blick in die Vergangenheit werfen, um Gegenwart und Zukunft besser zu verstehen. Sie haben Ihre Forschung in Bosnien-Herzegowina Anfang der 1990er Jahre begonnen – kurz vor dem Kriegsbeginn. Können Sie uns sagen, wie sich das Zusammenleben zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten verändert hat?

Wenn man die gegenwärtige Situation mit der Zeit vor dem Ausbruch des Konflikts im Jahr 1992 vergleicht, stellt man fest, dass das Zusammenleben fast verschwunden ist. Zuvor gab es in den meisten Städten und auch auf dem Land, ausgenommen einige bereits homogene Regionen wie der westliche Teil Herzegowinas, ein friedliches Nebeneinander der drei Gemeinschaften. Krieg und ethnische Säuberungen haben dazu geführt, dass mehr als zwei Millionen Menschen umgesiedelt wurden – mehr als die Hälfte der Bevölkerung! Trotz einiger „minority returns“, also der Rückkehr von lokalen Minderheiten in ihre ursprüngliche Wohngegend, sind die beiden aus dem Krieg hervorgegangenen, politischen Entitäten ethnisch homogen. In der Serbischen Republik etwa, eine dieser zwei Entitäten des Staates Bosnien-Herzegowina, leben heute mehr als 90% Serben. Die zweite Entität, die Föderation von Bosnien-Herzegowina, ist in bosniakische und kroatische Kantone geteilt. Lediglich Städte wie Sarajevo und Tuzla behalten eine gewisse Multi-Ethnizität bei, während Mostar in einen kroatischen und einen bosniakischen Sektor geteilt ist. Das sogenannte ‚komšiluk‘, die gute Nachbarschaft zwischen den Menschen der verschiedenen nationalen Gemeinschaften, war vor dem Krieg der Regelfall. Die Bosnier kennen zwar die Regeln des komšiluk‘ noch heute, haben jedoch nur selten die Gelegenheit zu deren Umsetzung. Wenn man die Situation sofort nach dem Krieg mit der heutigen Situation vergleicht, hat sich trotz allem vielerlei verbessert. Zu den „minority returns“, die auf etwa 400 000 Rückkehrer geschätzt werden, kommt hinzu, dass die Bewohner von Bosnien-Herzegowina ohne Sicherheitsbedenken frei von einer Entität zur anderen reisen können. Im alltäglichen Austausch von Mitgliedern der verschiedenen Gemeinschaften gibt es keine besonderen Probleme, da die politischen Fragen außen vor gelassen werden. Ein neues Bosnien-Herzegowina hat Gestalt angenommen; eines, in dem die Gemeinschaften nicht länger miteinander, sondern nebeneinander leben.

 

Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Krise in Griechenland auf Bosnien-Herzegowina und die Balkanregion ein? Setzen die Bosnier ihre Hoffnung nach wie vor in Europa?

Trotz der Fehler, die Europa während und nach dem Krieg begangen hat und trotz des Eindrucks, unaufhörlich auf den Eintritt in die Europäische Union warten zu müssen, bleibt die EU für die Bosnier ein Synonym für Sicherheit, Frieden und Prosperität. Insbesondere die Bosniaken identifizieren sich stark mit dem europäischen Projekt; für sie ist es wichtig, gleichzeitig Europäer und Muslime zu sein. Die aktuelle Krise in Griechenland hat zwar keinen direkten Einfluss auf die Region, bremst jedoch den europäischen Erweiterungsprozess um die Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens.

Im Allgemeinen reagiert die Balkanregion sehr sensibel auf Krisensituationen in Europa. Aus der Geschichte lernen wir, dass die Krisen auf dem Balkan immer mit geopolitischen Umstrukturierungen in Europa zusammenhingen. Das trifft ebenso für die Kriege der 1990er Jahre zu, die im Kontext des Endes des Kalten Krieges gesehen werden müssen. Heute treten die Krisensituationen vermehrt an den Randbereichen Europas auf: In der Ukraine, in Griechenland und der arabischen Welt. Das kann gefährlich für fragile Staaten wie Bosnien-Herzegowina oder Mazedonien sein, denn dort kreuzen sich die Interessen der westlichen Großmächte, Russlands und manchem Akteur der muslimischen Welt.

Die europäische Integration ist konkreter geworden

Anfang 2014 gab es eine Welle sozialer Proteste in den Großstädten, die sich gegen die politische Elite und die Korruption im Land richtete. Man hatte jedoch den Eindruck: Diese Proteste haben zu nichts geführt.

Das war auch mein Eindruck zu jenem Zeitpunkt: Die Proteste waren Ausdruck einer tiefsitzenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung - vor allem der jungen - führten jedoch nicht zu konkreten Forderungen und langfristigen Organisationsformen. Bei meinem Forschungsaufenthalt in Sarajevo im April dieses Jahres fand ich aber, dass sich das Klima zumindest in der Hauptstadt gewandelt hatte. Mit den sozialen Protesten ging das Ende der Hoffnung in die politische Elite des Landes einher. Paradoxer Weise hat diese Enttäuschung die Menschen dazu veranlasst, sich ihre Zukunft ohne das Warten auf politischen Wandel selbst zu erarbeiten. Meine Gesprächspartner waren nicht voller Nostalgie und Klage, wie das häufig in Bosnien-Herzegowina der Fall ist, sondern voll von eigenen Projekten. Ich hoffe, dass ich mit dieser Einschätzung richtig liege und dass sie einen wirklichen Wandel widerspiegelt.

Diese neue Stimmung hängt auch damit zusammen, dass die EU ihre Strategie für das Land nach den Protesten 2014 grundlegend geändert hat: Anstatt zum x-ten Mal eine ebenso komplexe wie unnötige Verfassungsreform zu fordern, spricht die EU nun über konkrete Projekte, wie beispielsweise den Ausbau der Straßeninfrastruktur. Die europäische Integration ist konkreter, greifbarer und damit erstrebenswerter geworden.

 

Mit welchem Ziel sind Sie im April nach Sarajevo gereist?

Ich bin im Rahmen meiner aktuellen Forschung über die bosnische Division der Waffen-SS „Handschar“ nach Bosnien-Herzegowina gereist. Mein Ziel war es, zusätzliche Forschung in einigen Archiven von Sarajevo und in den Archiven des Stadtmuseums von Bijeljina voranzutreiben. Bijeljina ist eine der Städte, die von der SS-Division „Handschar“ 1944 besetzt war. Ich habe vor Ort also nach Spuren geforscht, jedoch zu meiner Enttäuschung nicht viel gefunden. Das liegt vor allem daran, dass seit 20 Jahren ein großer Teil des Inhalts der Archive zerstört, verloren oder privatisiert wurde. Bijeljina ist keine Ausnahme von dieser Regel. In Sarajevo habe ich endlich die Erlaubnis bekommen, in den Archiven der Islamischen Gemeinschaft - also der offiziellen religiösen Institutionen -  zu arbeiten. Dort habe ich zwar nicht viel über die Division „Handschar“ in Erfahrung bringen, jedoch einiges über das Funktionieren der Islamischen Gemeinschaft in Kriegsverhältnissen lernen können. Sie war damals hin- und hergerissen zwischen der Neigung, ihre bürokratische Routine zu erhalten und der Notwendigkeit, der durch Massaker, Massenauswanderung und Hunger bedrohten muslimischen Bevölkerung zu Hilfe zu kommen.