Annie Ernaux beschreibt ihre Erzählungen La place (1983), Une femme (1987), La honte (1997) und teilweise L’événement (2000) in einer veröffentlichten Korrespondenz als „moins autobiographiques que auto-socio-biographiques“[1], also als „weniger autobiographisch als autosoziobiographisch“. Neben der in dem Kompositum angelegten Verbindung von Selbst und sozialer Welt bzw. Autobiographie und Soziologie finden sich Verweise auf eine ethnologische Methode: So lautet der provisorische Titel der ersten autosoziobiographischen Erzählung La place „Éléments pour une ethnographie familiale“[2] („Elemente einer Familienethnographie“) und die Erzählerin in La honte (Die Scham, 2020) bezeichnet sich als „ethnologue de [s]oi-même“[3](„Ethnologin [ihrer] selbst“[4]). Diese auktorialen Selbstinterpretationen gilt es zu hinterfragen.

In meiner Dissertation untersuche ich Ernaux’ autosoziobiographischen bzw. autoethnographischen Ansatz im Umfeld von Texten an der Schnittstelle von Autobiographie, Soziologie und Ethnographie, insbesondere aus dem französischsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Die Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie nach dem von Literatur und Soziologie bzw. Ethnographie, die die Termini Autosoziobiographie und Autoethnographie aufwerfen, werden spezifisch in der französischen soziologischen und ethnologischen Tradition herausgearbeitet. Denn die Betonung der körperlichen und mentalen Verinnerlichung sozialer Strukturen bei Marcel Mauss und Pierre Bourdieu sowie der Fokus auf ‚sozialen Tatsachen‘ und der Ausschluss des Literarischen im Erbe Durkheims Soziologie erhellen das Projekt der Selbstobjektivierung in Ernaux’ Texten. Darüber hinaus wird die Infragestellung von Innerlichkeit und die Dezentrierung des Subjekts in einem größeren literarischen und theoretischen Zusammenhang betrachtet, in dem die Arbeiten von Michel Leiris und Michel Foucault wichtige Bezugspunkte darstellen. 

[1] Ernaux, Annie: L’écriture comme un couteau. Entretien avec Frédéric-Yves Jeannet [Paris: Stock, 2003], Paris: Gallimard, coll. folio, 2011, S. 23.

[2] Ernaux, Annie: „Vers un je transpersonnel“, in: Serge Doubrovsky, Jacques Lecarme und Philippe Lejeune (Hrsg.): Autofictions & Cie, Cahiers Recherches interdisciplinaires sur les textes modernes 6. Paris: Université de Paris X, 1993, 219–221, hier: S. 220–221. 

[3] Ernaux, Annie: La honte. Paris: Gallimard, 1997, S. 40.

[4] Ernaux, Annie: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Berlin: Suhrkamp, 2020, S. 30.