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Ausschreibung eines Studientags zum Thema: „Der Ausnahmezustand – gegenwärtige Perspektiven in Theorie und Praxis“

September 04 

Ausschreibung eines Studientags zum Thema: „Der Ausnahmezustand – gegenwärtige Perspektiven in Theorie und Praxis“

Berlin, Centre Marc Bloch, 24. Februar 2023


In den letzten zwanzig Jahren hat die Problematik des Ausnahmezustands nach
zwischenzeitlicher Rezession erneut Hochkonjunktur erlangt, sowohl als Forschungsthema als
auch im Rahmen der öffentlichen Debatte. Allein ein Blick in die Nachrichten bestätigt diesen
Trend, man denke nur an die Terroranschläge in Frankreich im Jahr 2015 (Stichwort : état
d’urgence), jüngere Putschversuche, gleich ob gescheiterter (Türkei 2016) oder gelungener
Natur (Birma 2021), die jüngsten aufständischen Unruhen in Kanada (Blockade von Ottawa
durch Gegner der staatlichen Coronamaßnahmen Anfang 2022) oder gar die Bekämpfung der
Coronapandemie in toto (Stichwort : état d’urgence sanitaire).
In der Rechtssprache wird der Ausnahmezustand als Gesamtheit derjenigen Mittel beschrieben,
die vorgesehen sind, um einer außergewöhnlichen Gefahrenlage zu begegnen (Kervégan, 2003;
Kaiser, 2020). Dem Begriff haftet dabei etwas Unbestimmtes an, sammeln sich unter seinem
« Dach » doch die unterschiedlichsten Bestimmungen und Bezeichnungen (z.B.
Belagerungszustand, Notstand, Kriegszustand, Kriegsrecht o.ä.), die im Kleingedruckten nicht
allesamt dasselbe meinen. Die Unbestimmtheit des Ausnahmezustandes im rechtlichen Sinne
wird in jüngerer Zeit einmal mehr durch die verschiedenen Bedeutungen verstärkt, die der
Begriff außerhalb des normativen Kontextes erlangt, indem sich verschiedene Akteure anderer
Disziplinen seiner bemächtigen, und ihn unter Berücksichtigung ihrer jeweils unterschiedlichen
strategischen Zielsetzungen weiteren Begriffskonnotationen unterziehen. Die fehlende
Konturenschärfe des Begriffs kann im Zweifel zu einer völligen Auflösung des Konzepts bis
hin zu seiner Radikalisierung führen (Hayat & Tangy, 2011).
Neben den terminologischen Unstimmigkeiten unterliegt der Ausnahmezustand auch in der
praktischen Anwendung einem steten, zumal immer komplexer werdenden Wandel. Galt die
Suspension (von Teilen) der Rechtsordnung noch als das klassische Bekämpfungsmittel des
Ausnahmezustands, findet die Umsetzung des Ausnahmezustands heute mit Hilfe eines
rechtlichen Instrumentenkastens statt, der mit der gewöhnlichen Rechtsordnung konkurriert
(Troper, 2011; Barczak, 2020). Der Ausnahmezustand ist nicht mehr einfach das umgekehrte
Abbild des Rechtsstaats. Er stellt vielmehr eine Umgehung desselben dar, die durch
verschiedene juristische Techniken vermittelt wird (Fossier & Delmas-Marty, 2011;
Frankenberg, 2010). Die Ausnahme wird im und durch das allgemeine Recht normalisiert,
indem sich parallele Rechtskreisläufe entwickeln, die nachgiebiger sind und die Grundrechte
weniger schützen. Die stete Zunahme an Ausnahmeregelungen in der gewöhnlichen
Gesetzgebung ermöglicht es, einen faktischen Ausnahmezustand zu schaffen, ohne den
Rückgriff auf das Ausnahmeregime dabei gleichzeitig offen zu legen (Aolain, 2018). Darüber
hinaus fällt der Ausnahmezustand nicht mehr allein in den Zuständigkeitsbereich der Exekutive,
sondern wird von verschiedenen Akteuren, insbesondere auch der Judikative, koproduziert
(Guild, 2003; Ackerman, 2004).Die Interpretationen des Ausnahmezustands, die außerhalb der empirischen Rechtsanalyse
durchgeführt werden, scheinen sich jedoch wenig um diese zeitgenössischen Veränderungen
der Ausnahme zu kümmern. Dies gilt insbesondere für Giorgio Agamben, dessen Buch État
d'exception (2004) dazu beigetragen hat, das Thema als eigenständigen philosophischen
Gegenstand zu etablieren. Dem Philosophen wurde ein mangelndes Interesse an empirischen
Realitäten vorgeworfen (Bigo, 2007; Huysmans, 2008). Der « Metadiskurs über die
Ausnahme » (Bigo, 2019) bleibt vom Diskurs über die Souveränität beeinflusst (Goupy, 2017).
Inspiriert von Schmitt (1988) stützt sich dieser auf eine Darstellung des Rechts und der Politik,
die von den in den Sozialwissenschaften des Rechts beschriebenen Transformationen abweicht.
Während sich die Theoretiker:innen des Ausnahmezustands dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie
stützten sich auf eine fehlerhafte und veraltete Analytik der Macht und hätten daher
Schwierigkeiten, eine zeitgemäße Interpretation des Ausnahmezustands zu erbringen, können
Sozialwissenschaftler:innen, die auf die Unterstützung ihrer Kollegen:innen aus der
Philosophie und der politischen Theorie verzichten, wiederum das kritische Potenzial ihrer
Arbeit nicht vollständig ausschöpfen. Einem fehlenden bis mangelhaften Dialog möchten wir
mit unserem Studientag entgegenwirken, indem wir einen Raum für Austausch insbesondere
zwischen jungen Forscher:innen schaffen, die sich für den Ausnahmezustand in Theorie und
Praxis interessieren.
Unser interdisziplinär ausgerichteter Studientag soll sich dabei insbesondere der folgenden
Fragestellung widmen: Was können (deskriptive und kritische) Theorien des
Ausnahmezustands zur empirischen Untersuchung von Ausnahmepraktiken beitragen, und was
gilt in umgekehrter Hinsicht, wenn es um den Mehrwert empirischer Ansätze für die Theorie
des Ausnahmezustands geht?

Die Diskussionsbeiträge können sich auf einen oder mehrere der folgenden Schwerpunkte
beziehen:

1) Wie verhalten sich die genauen Formen des zeitgenössischen Ausnahmezustands zu den
Grundsätzen der liberalen Demokratie? Die liberal-demokratische Matrix politischer
Macht beruht auf einem Spiel der Spannungen zwischen Rechtsstaatlichkeit, politischer
Führung und dem Willen des Volkes (Huysmans, 2004). Auf welche Weise verändert
die Ausnahmepolitik das Gleichgewicht, das die liberale politische Identität ausmacht?
Ist der Ausnahmezustand tatsächlich eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen
Demokratie und Absolutismus, wie Agamben (2004) behauptet? Erleben wir eine
qualitative Transformation unserer politischen Regime oder lässt der zeitgenössische
Ausnahmezustand unterschiedliche Grade der Gefährlichkeit zu?

2) Kann das Recht den Ausnahmezustand wirksam eingrenzen (Isensee, 2009)? Die
Bruchlinie zwischen den verschiedenen kritischen Lesarten des Ausnahmezustands
betrifft den ungelösten Widerspruch zwischen dem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit
einerseits und der Sorge um die Demokratie andererseits (Grangé, 2018). Kann das
Recht in einer Zeit, in der sich das Konzept des Ausnahmezustands normativ
vervielfältigt und nicht allein auf die Außerkraftsetzung der Rechtsordnung setzt
(Aolain, 2018; Frankenberg, 2017; Barczak, 2020), aber überhaupt noch den Anspruch
erheben, eine effektive Sicherung gegen die Auswüchse exzentrischen
Ausnahmedenkens zu sein? Welchen Mehrwert hat die Vervielfältigung an
gesetzgeberischen Ausnahmezustandsvorkehrungen und welcher Raum bleibt für dasVerfassungsrecht, wenn man den Ausnahmezustand zunehmend auf die einfach-
gesetzliche Ebene « verdrängt » (Böckenförde, 1978)?

3) Wer entscheidet heute über die Ausnahmesituation? Ist die Not nach wie vor « Stunde
der Exekutive » (Rossiter, 1948; Kaiser, 2020) oder gibt es darüber hinaus auch andere
Akteure, die bei der Umsetzung der Ausnahmepolitik mitwirken? Ist der
Ausnahmezustand mit einem bestimmten sozial-ökonomischen Modell verknüpft?
Dient der Ausnahmezustand einem "autoritären Liberalismus" (Chamayou, 2020)?

4) Ist der Ausnahmezustand, ursprünglich als rein reaktiver Mechanismus konzipiert, für
die Risiken und Gefahrenlagen unserer Zeit (Stichwort: Terrorismus, Klima oder
Pandemien) überhaupt noch geeignet? Es scheint doch, dass die Krisen, die diese Art
von Risiken und/oder Gefahren auslösen können, eher nach langfristigen Präventions-
und Bewältigungsstrategien verlangen (Barczak, 2020). Welche
Alternativmechanismen kommen in Frage? Kann hier etwa das aus dem
Sicherheitsdiskurs bekannte Konzept der Resilienz einen Mehrwert leisten (Isensee,
2016)?

Teilnahmevoraussetzungen:
Der Studientag richtet sich hauptsächlich an Nachwuchswissenschaftler:innen
(Doktorand:innen, Post-Docs, oder auch Masterstudierende), die in den benannten
Themengebieten forschen. Die Bewerbung ist nicht an eine bestimmte Nationalität gebunden.
Die zu diskutierenden Themen sollen durch 15-minütige Diskussionsbeiträge vorgestellt
werden, denen sich ein weiterer Beitrag sowie eine halbstündige Diskussion anschließt. Jede:r
Teilnehmer :in trägt dabei in der Sprache seiner/ihrer Wahl vor, d.h. Französisch oder Deutsch,
ausnahmsweise Englisch. Die Teilnahme setzt darüber hinaus hinreichende, zumindest passive
Sprachkenntnisse in der jeweils anderen Sprache voraus. Wenn Sie an dem Studientag
teilnehmen möchten, bitten wir Sie, eine Zusammenfassung Ihres Diskussionsbeitrags (max.
300 Wörter; auf Deutsch oder Französisch, ausnahmsweise Englisch) sowie eine kurze Skizze
ihres Lebenslaufs, die ihren akademischen Werdegang, laufende Forschungsarbeiten und ihre
Sprachkenntnisse beschreibt, spätestens bis zum 30. September 2022 an folgende Email-
Adressen zu schicken: weronika.adamska@ehess.fr und ries@europa-uni.de. Unter diesen
Adressen stehen wir auch für Rückfragen zur Verfügung.

Übernahme von Kosten: Kosten für Reise und Unterkunft können im Rahmen des
Projektbudgets übernommen werden.

Keynote-Speaker:in: Frau Prof.'in Dr. Stéphanie Hennette-Vauchez (Université Paris
Nanterre, Institut universitaire de France) und Herr Dr. Stefan May (LMU München)

Organisatorinnen: Weronika Adamska (École des hautes études en sciences sociales,
Paris/FU Berlin) und Sabine Ries (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder)

Literaturverzeichnis:
Ackerman, B. (2004). The Emergency Constitution. The Yale Law Journal 113(5), 1029-1091.
Agamben, G. (2004). État d’exception (J. Gayraud, Trad.). Éditions du Seuil.
Aolain, F. N. (2018). L’exercice contemporain des pouvoirs d’urgence : Réflexions sur la permanence, la
non-permanence et les ordres juridiques administratifs. Cultures & Conflits, 112(4), 15-34.
Barczak, T. (2020), Der nervöse Staat. Mohr Siebeck Verlag.
Bigo, D. (2007). De « l’état d’exception ». NAQD, 24(1), 103-128.
Bigo, D. (2019). Les modalités des dispositifs d’état d’urgence. Introduction. Cultures & Conflits, 113(1),
7-15.
Böckenförde, E.-W. (1978). Der verdrängte Ausnahmezustand. Zum Handeln der Staatsgewalt in
außergewöhnlichen Lagen. Neue Juristische Wochenschrift, 38, 1881-1890.
Chamayou, G. (2020). 1932, naissance du libéralisme autoritaire. In G. Chamayou (Trad.), Du libéralisme
autoritaire (p. 7-82). La Découverte.
Frankenberg, G. (2010). Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand. Suhrkamp
Verlag.
Frankenberg, G. (2017). Im Ausnahmezustand. Kritische Justiz 50(1), 3-18.
Fossier, A., & Delmas-Marty, M. (2011). De l’exception en droit. Entretien avec Mireille Delmas-Marty.
Tracés. Revue de Sciences humaines, 20(1). https://journals.openedition.org/traces/5088
Goupy, M. (2017). L’état d’exception, une catégorie d’analyse utile ? Une réflexion sur le succès de la notion
d’état d’exception à l’ombre de la pensée de Michel Foucault. Revue interdisciplinaire d’études
juridiques, 79(2), 97-111.
Grangé, N. (2018). L’urgence et l’effroi. L’état d’exception, la guerre et les temps politiques. ENS Éditions.
Guild, E. (2003). Agamben face aux juges. Souveraineté, exception et antiterrorisme. Cultures & Conflits,
51(3). https://journals.openedition.org/conflits/967
Hayat, S., & Tangy, L. (2011). Exception(s). Tracés. Revue de Sciences humaines, 20(1).
https://journals.openedition.org/traces/5035
Huysmans, J. (2004). Minding Exceptions. The Politics of Insecurity and Liberal Democracy. Contemporary
Political Theory, 3, 321-341.
Huysmans, J. (2008). The Jargon of Exception—On Schmitt, Agamben and the Absence of Political Society.
International Political Sociology, 2, 165-183.
Isensee, J. (2009). Recht als Grenze – Grenze des Rechts. Texte 1979 – 2009. Bouvier Verlag.
Isensee, J. (2016). Resilienz von Recht im Ausnahmefall, in : v. Lewinski (Hrsg.), Resilienz des Rechts, S.
33-56. Nomos Verlag.
Kaiser, A.-B. (2020). Ausnahmeverfassungsrecht. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen.
Kervégan, J.-F. (2003). État d’exception. In P. Raynaud & S. Rails (Éds.), Dictionnaire de philosophie
politique (p. 252-255). Presses Universitaires de France.
Rossiter, C. (1948). Constitutional dictatorship: Crisis Government in the Modern Democracies. Princeton
University Press.
Schmitt, C. (1988). Théologie politique (J.-L. Schlegel, Trad.). Gallimard.
Troper, M. (2011). L’état d’exception n’a rien d’exceptionnel. In Le droit et la nécessité (p. 99-109). Presses
Universitaires de France.


Contact:

Weronika Adamska
weronika.adamska  ( at )  ehess.fr