Syria from within - Der Philosoph Sadik al-Azm berichtet
June 20
Trotz einer permanenten Berichterstattung in den Medien werden die Konflikte in Syrien praktisch ausschließlich aus einer Außenperspektive beleuchtet. Diese Perspektive einmal umzukehren, vermochte die Podiumsdiskussion „Syria from within – Aufstand und Konflikt aus syrischer Perspektive“, die das Centre Marc Bloch am 16. April 2016 in gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung in deren Sitz in Berlin durchführte. Vor der Projektion einer Kriegsszenerie vollkommen zerstörter Häuser und gewaltiger Trümmerberge erörterte der syrische Philosoph Sadik al-Azm mit dem Orientalisten und Friedenspreis-Träger Navid Kermani Geschichte und Hintergründe des Krieges in Syrien. Die beiden Gelehrten wurden von Julia Gerlach, Orientalistin und langjährige Nahost-Korrespondentin für verschiedene Medien mit Sitz in Kairo, moderiert.
Sadik al-Azm kennt sich mit innersyrischen, arabischen und verschiedenen westlichen Perspektiven auf den Nahen Osten aus. Er wurde 1934 in Damaskus geboren und studierte Philosophie an der Amerikanischen Universität Beirut. Er lehrte Philosophie in Yale, am Hunter College in New York, an der Amerikanischen Universität Beirut und der Universität Damaskus, wo er von 1977 bis 1999 eine Professur für Geschichte der Modernen Europäischen Philosophie innehatte. Einladungen als Gastprofessor für Politikwissenschaft und zeitgenössische arabische Sozialtheorie führten ihn an renommierte Universitäten weltweit. Seine wissenschaftlichen Verdienste wurden durch zahlreiche Auszeichnungen geehrt. So erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg sowie den Leopold-Lucas-Preis der Universität Tübingen und die Goethe-Medaille und ist zudem Erasmus-Preisträger der niederländischen Stiftung Praemium Erasmianum. Bis Frühling 2016 war er Gast der Direktion am Centre Marc Bloch Berlin.
Sadik al-Azm engagierte sich mit zahlreichen, zum Teil aufsehenerregenden Publikationen an politischen, sozialen und religiösen Debatten, die sich um Fragen des Islam, des Kulturkontakts oder der Politik im Nahen Osten drehten. Er gilt als kontrovers, einflussreich und als vehementer Verfechter der syrischen Opposition gegen das Assad-Regime. Er widerspricht der Ansicht, der Krieg in Syrien sei ein Religionskrieg. Als Experte für den Islam und die syrische Gesellschaft macht er immer wieder darauf aufmerksam, dass die Sunniten in Syrien eine moderate Auffassung von Religion haben und dass der Einfluss des Dschihadismus aus der Gewalt durch den syrischen Staat entwächst.
In der Heinrich-Böll-Stiftung diskutierte er nun mit Navid Kermani die Bedeutung der Religion in Syrien, die Rolle Europas im Syrienkonflikt und die Möglichkeiten westlicher Einflussnahme. Eine Genealogie der Innenperspektive des Konflikts – „Syria from within“ – vorzunehmen, bedeutet für Sadik al-Azm, wie während der Podiumsdiskussion klar wird, die Auflehnung eines Volkes, das geduldig ausharrte, besonnen agierte und reagierte, um sich schließlich in einem Aufstand gegen jahrelange Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Was folgte, ist für ihn eine furchtlose Revolution gegen Tyrannei und Willkür des jahrzehntelangen Baath-Regimes. In Damaskus erlebte Sadik al-Azm über Jahre den unheimlichen Gegensatz einer trügerischen Stille an der Oberfläche und darunter brodelnder Konflikte. Lange vor dem offenen Konflikt habe er Zeiten des Misstrauens, der Angst und Unsicherheit erlebt, wie sie sich unter vorgehaltener Hand entäußert hätten. Aufgrund dieser innenpolitischen Lage gebe es aus al-Azms Perspektive bis heute die Ressourcen, den Konflikt aus dem Innern heraus zu lösen. Doch machen Sadik al-Azm und Navid Kermani immer wieder auch deutlich, dass der Syrienkrieg nicht nur die Bevölkerungen vor Ort angeht, sondern es eine dringende Aufgabe für Europa ist, zu einem friedlichen Ausgang der Krise in seiner unmittelbaren Nachbarschaft beizutragen. An einer zentralen Frage lässt Sadik al-Azm keinen Zweifel aufkommen: Was auch immer die Zukunft für Syrien bringen mag, die Assad-Dynastie kann in keinem Szenario Teil einer stabilen Lösung sein.
Annabella David und Sébastien Vannier
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Sébastien Vannier
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