Frédéric Keck | Assoziierter Forscher

Umwelt, Klima, Energie: Gesellschaften und ihre ökologischen Herausforderungen
Centre Marc Bloch, Friedrichstraße 191, D-10117 Berlin
E-Mail: frederic.keck  ( at )  cnrs.fr Tel: +49(0) 30 / 20 93 70700

Mutterinstitut : CNRS | Position : Directeur de recherche | Fachbereich : Anthropologie , Philosophie |

Biographie

Frédéric Keck ist Forschungsdirektor am Laboratoire d'anthropologie sociale (CNRS-Collège de France-EHESS). Nach seinem Studium der Philosophie an der Ecole Normale Supérieure in Paris und der Anthropologie an der Universität Berkeley forschte er zur Geschichte der Anthropologie und zu zeitgenössischen biopolitischen Fragen, die durch die Vogelgrippe aufgeworfen wurden. Er erhielt 2012 die Bronzemedaille des CNRS und leitete zwischen 2014 und 2018 die Forschungsabteilung des Musée du quai Branly.

Das Konzept des Sentinels in den Sozial- und Umweltwissenschaften

Die Debatte über die Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19 hat sich unter anderem auf die Möglichkeit konzentriert, sich auf Pandemien vorzubereiten, indem zu Beginn eines Infektionsausbruchs Frühwarnsignale gegeben werden. Während die Spannungen um den Ursprung des SARS-Cov2-Virus auf einem Markt oder in einem Labor die Schuld für mangelnde Biosicherheit verteilen, hat die technische Möglichkeit, zoonotische Krankheitserreger zu antizipieren, zu einer Vervielfachung der Sentinel-Geräte geführt, die eine breite Palette von Tierarten wie Fledermäuse, Vögel, Primaten oder Moskitos überwachen, deren biologische Vielfalt durch Überwachungstechniken aufgedeckt und geschätzt wird. Sentinels können als Frühwarnsignale an der Frontlinie bei neu auftretenden Viren definiert werden, aber auch als Erkenner von Umweltbedrohungen, denen verschiedene Arten ausgesetzt sind, wie z. B. nukleare Strahlung, toxische Verschmutzung oder Zerstörung von Lebensräumen.
In diesem Forschungs- und Lehrprogramm wird das Konzept des Sentinels als kritisches Instrument in den Sozial- und Umweltwissenschaften in verschiedenen Bedeutungen des Begriffs "kritisch" verwendet. 1) Ein Sentinel verbindet ein subjektives Gefühl der Verwundbarkeit mit einem objektiven Wissen über das Risiko. Ein Sentinel ist nicht nur ein Indikator für eine statistische Tendenz, sondern bringt den Beobachter dazu, die Perspektive des beobachteten Lebewesens einzunehmen. Die kritische Frage lautet also: Wie erzeugen Sentinels neue Formen der Normativität bei der Wahrnehmung von Bedrohungen? 2) Sentinels werden eingesetzt, wenn Vorhersagemodelle versagen, um zukünftige Ereignisse zu antizipieren. Sie verlassen sich auf die Vorstellung einer Katastrophe, um deren Auswirkungen abzumildern. Dies wirft kritische Fragen zu den Möglichkeiten der Vorstellungskraft auf, um Zukunftsszenarien zu entwickeln, die keine Angst, sondern Wachsamkeit und Engagement erzeugen. 3) Wächter produzieren mehr Warnsignale als in einer utilitaristischen Rationalität notwendig ist. Sie folgen einer Logik von Luxus und Prestige, in der sich Kommunikation mit Wettbewerb vermischt. Es bedarf also einer Kritik der Wächter, fast im ästhetischen Sinne: Wie kann man unter all den Zeichen, die ein Wächter aussendet, diejenigen auswählen, die zu einer mildernden Maßnahme führen sollten? 4) Wächter erzeugen Signale jenseits der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft. Sie sind nicht von der Natur an die gesellschaftlichen Akteure gerichtet, in einer Logik, die Nicht-Menschen als Träger von Zeichen oder Symbolen betrachtet. Sie entstehen in Gebieten, in denen Menschen und Nicht-Menschen einer gemeinsamen Bedrohung ausgesetzt sind. Die Vorstellung einer Katastrophe führt Menschen und Nichtmenschen in ein Szenario ein, in dem sie gleichermaßen Akteure sind. Die entscheidende Frage lautet dann: Wie senden Wächter Warnsignale aus, wenn sie nicht mit Argumenten in einem öffentlichen Raum arbeiten?
Dieses Programm ist Teil des vierten Forschungsschwerpunkts des Centre Marc Bloch, "Pensées critiques au pluriel. Konzeptuelle Ansätze der Forschung in den Sozialwissenschaften". Da ich über die mir bekannten Hauptfiguren der Geschichte der Sozialwissenschaften, von Lucien Lévy-Bruhl bis Claude Lévi-Strauss, lehren werde, erwarte ich eine Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Denkrichtungen, insbesondere mit der Frankfurter Schule über die Vorstellung von Katastrophen und der Risikosoziologie über die Reflexivität moderner Gesellschaften. Wenn ich diese beiden Autoren in den Sozialwissenschaften im Kontext der Umweltkrisen ihrer Zeit lese, werde ich fragen, inwiefern das Studium des "wilden Geistes" für moderne Denker ein Umweg war, um die Möglichkeiten von Wächtern zu erkunden. Im intellektuellen Umfeld des Centre Marc Bloch in Berlin möchte ich einen Raum des Dialogs mit der Wissenschaftsforschung und der Umweltgeschichte eröffnen.
Mein Lehrprogramm wird in drei Teile gegliedert sein, die sich chronologisch um drei Hauptereignisse in der Geschichte der Sozialwissenschaften entwickeln werden: 1) die Dreyfus-Affäre und die Frage der Kriminalität in der Französischen Republik, die zu einer spezifischen Allianz zwischen Soziologie und Mikrobiologie führt. 2) Der Kalte Krieg und die Modellierung der menschlichen Vielfalt zur Vorbeugung von Atomkatastrophen. 3) Das Auftreten neuer Infektionskrankheiten am Ende des Kalten Krieges und die Einrichtung von Sentinels zur Vorbereitung auf Pandemien. 

Publikationen

2004 Lévi-Strauss et la pensée sauvage, Paris, PUF-Philosophies (traduit en espagnol à Buenos Aires, Nueva Vision, 2005)

2005 Claude Lévi-Strauss, une introduction, Paris, La Découverte-Pocket, 349 p. (rééd. 2011) (traduit en portugais à Rio de Janeiro, Contraponto, 2013)

2008 Lucien Lévy-Bruhl, entre philosophie et anthropologie. Contradiction et participation, Paris, Editions du CNRS, 274 p.

2010 Un monde grippé, Paris, Flammarion

2019 (avec Ann Kelly et Christos Lynteris) The Anthropology of Epidemics, Londres, Routledge.

2019 (dir.) Valeurs et matérialités, Paris, Presses de l’ENS-musée du quai Branly

2020 Avian Reservoirs : Virus Hunters and Birdwatchers in Chinese Sentinel Posts, Durham, Duke University Press (trad. fr. Les sentinelles des pandémies. Chasseurs de virus et observateurs d’oiseaux aux frontières de la Chine, Bruxelles, Zones sensibles) traduction chinoise aux Presses de l’Ecole Normale de l’Est

2020 Signaux d’alerte. Contagion virale, justice sociale, crises environnementales, Paris, Desclée de Brouwer.

2021 (avec A. Morvan) Chauves-souris. Rencontres aux frontières entre les espèces, Paris, CNRS Editions.