Gesellschaft im Krisenmodus: Geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Corona
April 03
In dieser Zeit der Ungewissheit wollen die Wissenschaftler*innen des Centre Marc Bloch einen Beitrag zur kritischen Betrachtung des außergewöhnlichen Moments leisten, den die Welt derzeit durchlebt. Aus der Perspektive der verschiedenen am Centre Marc Bloch vertretenen Forschungsfelder beleuchten sie in dieser neuen Rubrik regelmäßig die Auswirkungen der "Corona-Krise" auf unsere Gesellschaften.
Virale Evolution
Vom worst case und Handlungsimperativen
Andrea Kretschmann, Soziologin, Ko-Leiterin des Forschungsschwerpunkts "Staat, Recht und politischer Konflikt"
Das Kommende hätte man erahnen können – und hat es doch zu spät vorausgesehen. Im politischen Denken der Regierungen von Bund und Ländern schlägt das Virus nun umso drastischer zurück. Denn ihre Maßnahmen stützen diese auf die Antizipation möglicher Zukünfte, sie entwerfen Szenarien und gestehen dem worst case dabei eine prominente Stellung zu. Wie ein Schatten überlagert er die Gegenwart und beschwört eine drohende Zukunft herauf. Das Denken in worst cases formuliert eine Dringlichkeit; es setzt einen Handlungsimperativ, der etablierte Begründungszusammenhänge für politische Maßnahmen auszuhebeln und Verfahrenswege abzukürzen vermag. Unabhängig von der tatsächlichen Wirksamkeit der Maßnahmen, die hier keiner Evaluation unterzogen werden sollen und die zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin kaum zu beurteilen sind, ist es der worst case, der die massivsten kollektiven Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik – Ausgangssperre, Kontaktverbot, Schließungen usw. – bedingt. Die Politik greift damit auf eine etablierte Krisentechnologie zurück.
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Szenarien werden verwendet, um Gefahren antizipierbar zu machen, die sich in ihrer Tragweite nicht eindeutig eingrenzen lassen. Sie entwerfen Zukunftsverläufe, die in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht noch im Ungewissen liegen. Ist der vorrangige Umgang mit der Zukunft seit der Moderne von Extrapolationen gegenwärtiger Ereignisse oder früherer Erfahrungen bestimmt, um von hier aus Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, so ist der vorsorgende Blick im Fall des Szenarios anders gelagert als die Stochastik. Szenarien bedienen sich nicht des Mittelwerts vergangener Geschehnisse oder Indikatoren der Gegenwart, um von hier aus Ableitungen zu treffen. Entsprechend kalkulieren sie nichts. Zwar nehmen sie Risikowerte auf und integrieren sie in ihre Modelle. Anders als Risikokonzeptionen aber stützen Szenarien sich nicht selbst zentral auf die Probabilistik. Ihr Zweck ist nicht die zahlenmäßige Bestimmung der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Zukunftsverlaufs, sondern das Aufzeigen der Eigenarten und Konsequenzen des konkreten Eintrittsfalls selbst. Insofern wagen Szenarien keine Vorhersagen, sondern sie entwerfen mögliche Zukünfte.
Es ist dies eine Denkweise, die sich am Unbekannten orientiert, an einem möglichen Ereignis, das sich aus dem Mittelwert vergangener Geschehnisse oder Indikatoren der Gegenwart kaum mit Sicherheit ableiten, wenngleich nur mit ihrer Hilfe denken lässt. Oft als singulär gerahmt, als vollkommen andersartig und unbekannt, wird auf Geschehnisse abgezielt, die bislang noch gänzlich außerhalb des Bereichs bekannter Wirkungszusammenhänge liegen könnten. Ausgerichtet mithin an einer Zukunft, die jeglichen Vergleichs entbehrt und sich insofern als entsprechend un-berechenbar erweisen muss, stehen derartige Denkweisen nicht für die Identifizierung bekannter Risiken. Sie formulieren neue Ungewissheiten. Vor diesem Hintergrund scheint es kaum ausreichend, die Erwartung und Aufmerksamkeit allein auf das als ‚wahrscheinlich‘ Gesicherte zu richten, vielmehr bedarf es der Antizipation möglicher Ereignisse und Verläufe.
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Derartiges zeigt sich im politischen Umgang mit der Pandemie. Schnell wurde auf die Geschehnisse als historisches Ereignis umwälzenden Charakters rekurriert. Sie wird seit mehreren Wochen als die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gehandelt. Das Kommende zu denken, erweist sich jedoch als schwierig. Die Dynamik der viralen Evolution lässt sich aus dem hierzulande Vertrauten nur schwer ableiten: Die Bedingungen, die in Ländern wie Italien oder China vorherrschen, gelten als mit Deutschland schwer vergleichbar. Das betrifft etwa die politische und administrative Struktur des Staates, das betrifft die demografischen Proportionen und sozialen Verhältnisse junger und alter Menschen, das betrifft die Luftverschmutzung und die Beschaffenheit des Gesundheitssystems. Aufgrund geringer Kenntnisse über die Relationen von Virus und Gesellschaft liegt hier ein Spiel mit vielen Unbekannten vor.
Eine derartig unvollständige Eingrenzbarkeit stellt sich dann als Problem, wenn Zukunft als katastrophal vorgestellt wird, aber wenn ihr Eintreten (in welcher Form auch immer) als garantiert angesehen wird. Die Verdopplungsgeschwindigkeit der Ausbreitung des Virus etwa sagt dann zu wenig aus. Zugleich muss es deshalb darum gehen, sich zur Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung keinen failure of imagination zu leisten. Es ist diese Situation, die – um es mit dem geflügelten Wort des Erfinders der Szenario-Technik im Kalten Krieg auszudrücken – zum „thinking the unthinkable“ (Herman Kahn) anregt.
Dies ist die Ausgangsbedingung für ein Denken in Szenarien, denn die Prognose hält entlang des statistisch berechenbaren Durchschnitts keine ausreichenden Handlungsableitungen bereit. Ein angemessener Zugriff auf die Zukunft ist dann zu gewinnen, wenn sie alsMöglichkeit gesponnen wird. Um sicherzugehen, wird also eine neue Zeitrechnung eingeführt: Man bezieht sich auf diffuse, also sich räumlich, zeitlich, sozial usw. nur vage abzeichnende Zukünfte. Auch wenn das Denken in Szenarien damit als fiktional zu charakterisieren ist, so ist das so Erdachte dennoch als unmittelbar existent zu handhaben, da es zu einer sozialen Tatsache wird, mit der zu rechnen ist. Durch seine bloße Existenz entfaltet das Szenario Evidenz; es ist performativ.
Besondere Prominenz nimmt im Corona-Diskurs das worst case-Szenario ein. Es orientiert sich an absoluten Krisenfiktionen, an einer Lesart der Pandemie als einem alles verändernden, schrecklichen Ereignis. Das Eintreten des worst case bedeutet immer einen traumatischen Verlust, angefangen bei der Zerstörung bestehender politischer und wirtschaftlicher Ordnungen bis hin zur Vernichtung zentraler Ressourcen. Im worst case kommt das Virus als absolute Gefahr daher. Nach einer vom Innenministerium in Auftrag gegebenen Studie werden verschiedene worst case-Szenarien hinsichtlich unterschiedlicher Grade staatlichen Eingreifens gesponnen. Im Fall nur geringer staatlicher Restriktionen, wenn etwa nur größere Veranstaltungen verboten und Reisetätigkeiten eingeschränkt würden, geht man etwa davon aus, das bis zu 350.000 Menschen gleichzeitig intensivmedizinische Versorgung benötigen würden, „was angesichts der vorhandenen Kapazitäten bedeuten würde, dass 85 Prozent derjenigen, die sie brauchen, abgewiesen werden müssten“[1].
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Weil das Denken in worst-case-Szenarien eine eigentümliche Evidenz entfaltet, wird es anfällig für die Rhetorik des Sachzwangs; in seiner augenscheinlichen Plausibilität setzt es einen notwendigen Handlungsgrund. Das reduziert derzeit eine ganze Reihe der üblichen Rechtfertigungszwänge demokratischer Politikroutinen. Ausreichend erscheinen Begründungen auf der Ebene des Epidemologischen, die Politik zu einem bloßen Verlautbarungsinstrument degradieren. Philipp Sarasin bemerkt dazu ironisch, alles wirke „wie ein biopolitischer Traum: Von Ärzten beratene Regierungen zwingen ganze Bevölkerungen unter eine Seuchendiktatur, entledigen sich unter dem Titel der ‚Gesundheit‘, ja des ‚Überlebens‘ aller demokratischen Hindernisse“[2]. Entsprechend sind eventuelle Berechnungen des möglichen Schadens, der durch die politischen Maßnahmen entsteht, ebenso wie politische Langzeiteffekte erst einmal nachrangig und werden erst im Verlauf – wiederum durch Szenarien – erhoben.[3] Auch die Wirksamkeit der unterschiedlichen gesetzten Maßnahmen darf im Spekulativen verbleiben.
In diesem Sinne ermöglicht es der worst case nicht nur, das volle Register des Infektionsschutzgesetzes in Gang zu setzen, sondern (man denke an die allgemeine Ausgangsbeschränkung) weit darüber hinauszugehen.[4] Er ermöglicht weiter eine im „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ geregelte, verfassungsgesetzlich bedenkliche Novellierung, die dem Bundesgesundheitsminister beispiellose Vollmachten erteilt.[5]
Im Rückgriff auf den worst case und damit zusammenhängend auf die Installierung weitreichender präventiver Maßnahmen bedient sich die Politik damit einer etablierten Krisentechnologie: Als besondere abwehrrechtliche Maßnahme, die gesetzt wird, um dem drohenden Verlust zu entgehen, ähnelt die gesetzte Strategie beispielsweise dem ursprünglich militärischen Prinzip der Präemption. Dieses berechtigte einen Staat nach internationalem Recht zur Durchführung eines Präventivschlags, wenn ihm Beweise oder Warnungen über einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vorlagen. Heute hat sich diese Bedeutung ins Innere verschoben; sie hat sich zu einer zivilen Technik unter militärischen Vorzeichen gewandelt. In der Kriminalpolitik kommt Präemption gefahrenabwehrrechtlich im „Krieg gegen den Terror“ zum Einsatz. Hier wie dort begründen worst case-Szenarien weit in die Zukunft reichende Vorgriffe auf Gefahren. Es überrascht deshalb nicht, dass in vielen Ländern derzeit kriegerische Terminologien kursieren. Man muss nur nach Frankreich schauen, um zu erkennen, dass hier ein „Krieg gegen das Virus“ geführt wird.
Der worst case legitimiert mithin unter breiter gesellschaftlicher Zustimmung weitgehende Grundrechtseinschränkungen und bringt ein neue Strukturen der Ausnahme hervor.[6] Damit ist es weniger die aktuelle Lage als die Vorstellung des schlimmsten Falls, die zu den aktuellen Maßnahmen anreizt: Es ist das Denken in bestimmten Termini des Zukünftigen.
[1]https://taz.de/Strategiepapier-des-Innenministeriums/!5675014/
[2]https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/
[3] Z.B. https://twitter.com/EconPolEurope/status/1244545057287548930/photo/1
[4]https://www.juwiss.de/27-2020/ und https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/
[5]https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/181/1918111.pdf; https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im-zeichen-des-virus/
[6] Vgl. hierzu umfassend https://www.cilip.de/institut/corona-tagebuch/?fbclid=IwAR3lUg5JSzZjNwyF2ldEYzQk0ZawbkBVd-kKCXe-bNx4YFUuvJSiO0HvFOQ
Contact:
Andrea Kretschmann
kretschmann ( at ) cmb.hu-berlin.de