Dr. Marion Picker | Assoziierte Forscherin

Mutterinstitut
:
Université de Poitiers
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Position
:
Maîtresse de conférences
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Fachbereich
:
Germanistik
,
Kulturwissenschaften
|
Biographie
Marion Picker hat 2003 nach einem Studium der Philosophie und Germanistik an der Johns Hopkins University und der Université Marc Bloch (Strasbourg) über den "konservativen Charakter" Walter Benjamins promoviert. Von 2002 bis 2008 arbeitete sie als "assistant professor" in den USA, an der Northwestern University und am Dickinson College (Carlisle, PA). Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich hat sie an der Université d'Aix-Marseille und an Paris Nanterre gelehrt. Seit 2017 ist sie "Maîtresse de conférences" an der Universität von Poitiers. Im Rahmen eines Stipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung (2017-2020) arbeitete sie an der Europa-Universität Viadrina und am Centre Marc Bloch an einem Projekt zur "kartographischen Angst". Von April bis Juni 2019 war sie Gastwissenschaftlerin am Deutschen Historischen Institut in London. Sie freut sich, seit 2020 gemeinsam mit Julio Velasco die Gruppe "Kunst und Forschung" am Centre Marc Bloch zu koordinieren.
Stipendium
Forschungsaufenthalt in Deutschland (Europa-Universität Viadrina, Centre Marc Bloch) und Grossbritannien (Deutsches Historisches Institut London, April-Juni 2019) gefördert durch die Alexander von Humboldt-Stiftung (2017-2020)
Forschungsthema
- Geschichte räumlicher Wissensdarstellungen, Sammlungen und Museen
- Künstlerische Forschung
- Kollektives und kulturelles Gedächtnis in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts
- Kartographische Affekte
- Übertragung und Übersetzung
- Cultural Studies/Kulturwissenschaften
Projekte
- Lieux communs. Arts et spatialités, Impulsionsprojekt UP squared, PIA-4, mit Christine Plumejeaud-Perreau und Claire Portal, 2025-2026
- Kartographische Angst (Monographie; Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder/Université de Paris)
- Kunst und Kartographie/Art et cartographie. Reihe von Online-Workshops & Publikation mit der Gruppe "Kunst und Forschung" am Centre Marc Bloch
- Weichbild, Denkbild, Stadtbild. Die erkenntnistheoretische Funktion des Bildes. Für eine andere Geschichte des städtischen Raums, Publikation in den Cahiers d'Etudes Germaniques, in Vorbereitung
Organisation von Veranstaltungen
Kolloquium "L'espace créateur du récit" im Rahmen des Projekts "Lieux communs. Arts et spatialités", 9.-10. Oktober 2025
Organisation (gemeinsam mit Julio Velasco) der Seminare "Arts et recherche" am Centre Marc Bloch, 2025-2026
Mit Julio Velasco und Forscherinnen und Forschern des Centre Marc Bloch : Organisation der Ausstellung "Les voi.es.x de la carte" an der Maison de France in Berlin, 10. Januar 2023 - 28. Februar 2023
Kartographische Angst in den ‚ersten‘ Kulturwissenschaften. Ambivalente Metaphern bei Braudel, Rosenzweig, Warburg und Benjamin
Schon vor einem Vierteljahrhundert gaben Vertreter der kritischen Kartographie wie J. B. Harley oder Christian Jacob zu bedenken, dass Karten sowohl stets machtpolitisch determiniert sind als auch – in ihrer gängigen Verwendung – eine reduktive Version der Subjektphilosophie transportieren. Der Humangeograph Derek Gregory wandelte daher 1994 den vom Philosophen Richard J. Bernstein geprägten Begriff „Cartesian anxiety“ in „cartographic anxiety“ ab, wobei er den Bezug auf Descartes jedoch auf die seit der Neuzeit gültigen epistemologischen Grundbedingungen der Kartographie verallgemeinert. Die „Angst“ bezeichnet dabei die Rückkehr des Zweifels und ein Unbehagen an der erhabenen „apollinischen“ Beobachterposition der Karte, der Ausklammerung des Betrachters aus der (historischen) Welt. In einer Reihe von Disziplinen – u.a. Kulturwissenschaften, Philosophie, Kartographiegeschichte, Humangeographie, Kunstgeschichte, Bild-, Film- und Medienwissenschaften, Kognitive Psychologie und Linguistik, Literaturwissenschaft – haben sich aus dieser Problematisierung der „kartographischen Vernunft“ (Olsson, Farinelli) ebenso fruchtbare wie unübersichtlich gelagerte Folgedebatten an den Rändern der Kartographie ergeben. Ihr gemeinsamer Nenner besteht in der Hinterfragung des Repräsentationsparadigmas der Kartographie (Pickles, Caquard) zugunsten einer Auffassung von Kartographie als Praxis und Prozess.
Angesichts des informatisch bedingten Wandels der Kartographie, der neuen Ubiquität von kartenähnlichen Bildern sowie der poststrukturalistischen Transformation aller Wissensgebiete zeichnet sich jedoch nicht nur ein interdisziplinärer minimaler Konsens ab, dass die heutige Kartographie als „post-repräsentational“ aufzufassen ist. In dem Maß, wie das Objekt „Karte“ sich der Praxis „Kartographie“ annähert, verschwimmen im gleichen Zuge ihre Gegenstandsbereiche gegenüber metaphorischen Verwendungen. Nicht nur im außerwissenschaftlichen Bereich, sondern gerade in den Kulturwissenschaften ist ein Gebrauch von „Mapping“ und „Kartierung“ üblich geworden, der die Metapher nicht nur quasi-begrifflich verwendet (z.B. Bachmann-Medick), sondern dabei hinter den erreichten Stand der Problematisierung einer abbildenden, zuordnenden Kartographie zurückfällt. Im Versuch, die deutschen Kulturwissenschaften gegen die anglo-amerikanische Version zu profilieren und eine auf eine ahistorische Zuordnungsfunktion reduzierte Mapping-Rhetorik zu kritisieren, führt Sigrid Weigel (2002) eine Reihe von kontinentaleuropäischen Theoretikern aus dem Umfeld der ‚ersten‘ Kulturwissenschaften als mögliche Gewährsmänner für einen topographisch und historiographisch sensibilisierten kulturwissenschaftlichen Umgang mit der kartographische Metapher an.
Fragestellung
Vor diesem Hintergrund wendet sich das Projekt der Frage zu, wie sich kartographische Angst avant la lettre bei einer Reihe von Autoren manifestiert, die heute den ersten „Kulturwissenschaften“ direkt oder, als Kulturphilosophen, mittelbar zugerechnet werden, und deren weitere Gemeinsamkeit der Rückbezug auf die Neuzeit und ihre epistemischen Modelle ist. Es handelt sich um Aby Warburg, Walter Benjamin, Franz Rosenzweig, Fernand Braudel und ihr jeweiliges intellektuelles Umfeld. Sie repräsentieren eine Generation, deren Bezug zur Karte problematisch wurde: unter imperialistischen Vorzeichen war es zum Abschluss der kartographischen Erfassung der Welt gekommen, was der französische Geograph Brunhès 1909 als Situation „im Käfig“ bezeichnete – und die zu einer Wendung nach innen, zu einer Institutionalisierung als „Kartenwissenschaft“ Anlass gab. Zugleich wurde das euklidische Weltbild, das der traditionellen Kartographie zugrundeliegt, in Frage gestellt: so markiert in Ernst Cassirers Werk die Auseinandersetzung mit Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie den Übergang von der Erkenntniskritik zu einer Philosophie der symbolischen Formen. Nicht zuletzt halten die ausgewählten Autoren die Erschütterung eines repräsentierbaren oder erfahrbaren Raum-Zeit-Gefüges durch die Weltkriege – den ersten oder den zweiten oder beide – explizit fest, sei es durch die Situation in den Schützengräben (Rosenzweig), den Stellungskrieg und das Exil (Benjamin), den Zusammenbruch vor der Akkumulation der Kriegszeugnisse (Warburg) oder die Gefangenschaft (Braudel), nicht ohne ebenfalls die Rolle des Kriegs für die technische Innovation gerade auch in der Kartographie zu würdigen.
Keiner dieser Autoren ist jedoch der Frage, was eine Karte sei und welche Aufgabe der Kartographie zukomme, mit einer expliziten, ausführlichen Stellungnahme nachgegangen – die kartographische Problematik bleibt latent. Dies gibt jedoch umso mehr Anlass, aus den impliziten oder verstreuten Hinweisen in ihren Werken die Funktion der Kartographie zu konstruieren, als es nicht an Belegen dafür mangelt, dass sie ihr jeweiliges Werk als „Kartographie“ sahen. Dies kommt gerade in denjenigen Momenten zum Tragen, die diese Werke als kultur- und ideengeschichtliche ausweisen. Welche kartographischen Metaphern, welche Diagramme und Kartogramme mobilisieren sie? Welchen erkenntniskritischen Stellenwert haben diese für das jeweilige Gesamtwerk und seine Tragweite bis heute? Diese Fragen sollen unter metaphorologischem Blickwinkel in den vier Kapiteln zu Braudel, Rosenzweig, Warburg und Benjamin verfolgt werden.
Braudel erscheint in der Reihe der untersuchten Autoren als „Verspäteter“, dessen Habilitation La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II durch die Kriegsgefangenschaft nicht nur verzögert wurde, sondern durch sie auch entscheidende Anstöße erhielt. Insofern er auf die Einbeziehung der politischen Geographie und Anthropogeographie der ersten Generation der Annales-Schule aufbauen konnte, war eine räumliche Orientierung seines Ansatzes ohnehin schon angelegt. Für die grundlegendste Neuerung, die sein Werk zum Mittelmeer in der Epoche von Philipp II. von Spanien darstellt, die Einführung der „longue durée“, machte er jedoch die nachträgliche Begegnung mit der deutschen Geographie verantwortlich – wie auch die Erfahrung, durch Karten das sichtbar machen zu können, was sich hinter Lagermauern oder dem Horizont dem Blick entzieht. Seine Entscheidung, die geschichtliche Darstellung des Mittelmeerraums als „Welttheater“ zu konzipieren, verweist nicht nur auf die Literatur der von ihm dargestellten Epoche, sondern auch auf den ihr zeitgenössischen Atlas des Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum. Durch die Buchform hielt dieser eine technische Lösung für das Problem bereit, der sich abzeichnenden Pluralisierung der Kartographie gerecht werden zu müssen, ohne zugleich die Einheitlichkeit des dargestellten Gesamten preiszugeben. Die Theatermetapher erlaubte es zudem, der Abfolge einzelner regionaler Karten einen chronologisch-historischen Sinn zu verleihen, sie somit in ein Weltbild zu integrieren. Das Motiv des Theaters als Schauplatz der Geschichte, ja der Geschichte als Schauplatz spielt auch bei Benjamin eine zentrale Rolle. Braudels eigene Klage über Karten, sie seien als solche nicht „dynamisch“ genug, historische Prozesse adäquat darzustellen, ist einerseits mit seiner Haltung gegenüber einem weiteren visuellen Medium, dem Film, zu konfrontieren (Castro), und andererseits mit dem zeitgenössischen Versuch der deutschen Geopolitiker, propagandistische „movie maps“ (Boria) zu erstellen. Wie eine Karte in La Méditerranée zeigt, die erstaunlicherweise nicht genordet, jedoch als Karte unkommentiert ist, blieb Braudel vor der Konsequenz seiner Verwendung der Kartenmetapher stehen: Karten dienen bei ihm dazu, historisch Unbewusstes aufzuweisen, aber das Unbewusste der Kartographie selbst bleibt unausgesprochen.
Eines der Hauptprobleme bei der Beurteilung von Rosenzweigs Werk ist dessen Einheitlichkeit. Dem Hauptwerk Stern der Erlösung geht nicht nur Hegel und der Staat voraus, sondern auch eine Reihe von Aufsätzen, darunter „Globus“, die deutlich politisch-geographisch beeinflusst sind. In einem „Denken in Achsen“, das direkt von Friedrich Naumann, indirekt jedoch auch vom Geographen Friedrich Ratzel inspiriert ist, erscheint die Karte als Kräftefeld, in dem die geschichtliche Dynamik vorgezeichnet ist. Zu prüfen wäre nicht nur der Grad des kartographischen Unbehagens, das sich an der Bannung der geschichtlichen Kontingenz erweist (ein Impuls, den Rosenzweig erstaunlicherweise mit Carl Schmitt und den Geopolitikern teilt), sondern auch der Zusammenhang dieses Unbehagens mit der Verabschiedung der universitären Philosophie. Dieser Bruch wird im Stern der Erlösung graphisch in Szene gesetzt, wobei der Stern einerseits diagrammatisch die Bezugspunkte des Werks kartiert, andererseits jedoch als Kartensymbol für „Synagoge“ aus dem kartographischen Zusammenhang isoliert ist. Der Stern/die Synagoge werden somit zu einem Innen ohne Außen, zu enträumlichten Orten, zu Nicht-Orten. Mit dem Stern verdeutlichte Rosenzweig jedoch nicht nur die Aufhebung der räumlichen Ausdehnung, in welcher er das Wesen des Christentums sah (Missionierung). Er schuf damit auch ein graphisches Gegenmodell zum kartographischen Netzentwurf, den sein konvertierter Freund Rosenstock als Kreuz symbolisierte. Dieser Anti-Kartographie gab Rosenzweig paradoxerweise die Form eines Kartensymbols.
Im Gegensatz zu Rosenzweig suchte Warburg den Weg in die Rationalität der Wissenschaft und nicht aus ihr heraus; als Begründer der Ikonologie ist er eine der wichtigsten Vorläuferfiguren der neueren Bildwissenschaft. Mit Cassirer, der in den zwanziger Jahren seine Philosophie der symbolischen Formen erarbeitete, hatte er einen bedeutenden Gesprächspartner für seinen Ansatz einer kulturpsychologischen Geschichtsschreibung gefunden, teilte jedoch auch das Interesse an frühneuzeitlicher Kosmologie mit ihm. Bei Warburg stand jedoch der affektive Aspekt im Vordergrund: die Visualisierung von mythischer Angst in Astrologie, Ritualen und künstlerischen Zeugnissen; die geschichtlichen Wechselfälle ihrer Bannung sowie ihre latente Tradierung. Unter dem Gesichtspunkt der „kartographischen Angst“ ist bemerkenswert, dass Warburg im unvollendeten Projekt des BilderatlasMnemosyne mit einer Darstellungsform experimentierte, die eine Auflösung des zweidimensionalen Kartenblatts und gleichsam der linearen Geschichtsschreibung in den Raum anstrebte: auf schwarz bespannten Stellwänden wurden Fotos variabel nach Themengebieten gruppiert. „Atlas“ ist neben dem von Braudel angeführten „theatrum mundi“ eine weitere Metapher für die kartographische Organisationsform, deren heutiger Name allerdings auf verschiedene mythische Atlas-Figuren rekurriert (Didi-Hubermann). Die Hauptfrage des Teils über Warburg richtet sich auf die Konstruktion des betrachtenden Subjekts und das Verhältnis von Bild und Schrift, Karte und Legende. Einerseits liegt durch das Prinzip der Ausstellung eine Distanzierung wie bei der Karte traditioneller Art vor, andererseits wird der Beobachter buchstäblich „in“ die Karte gestellt. Mit den humanistischen Kartographen der frühen Neuzeit teilt Warburg das Prinzip der offenen, jeweils unter einem Thema abschließbaren Sammlung, jedoch auch den melancholischen, fortschrittspessimistischen Grundton angesichts der sich anhäufenden Kulturzeugnisse. Ein verwandter zeitgenössischer Impuls zu dem Warburgs, die Welt in spezifischer geschichtlicher Hinsicht über Bildzitate und Bilddokumente einzusammeln und auszustellen, findet sich bei Albert Kahn. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass der Beobachter implizit durch anthropologische Methoden in Frage gestellt wird.
Im Gegensatz zu den Werken der anderen untersuchten Autoren sind größere Teile von Warburgs Werk noch nicht ediert. Nach Möglichkeit soll, gerade auch zur Auseinandersetzung mit Kosmologie und Astrologie, unveröffentlichtes Material aus der Warburg Institute Library in London herangezogen werden.
Benjamin bezeichnete nicht nur Kants kritische Philosophie als „Wegekarte durch den kahlen Wald des Wirklichen“, sondern verstand auch sein entscheidendes, letztes Projekt, die Passagenarbeit, ausdrücklich als „Karte“. Wie bei Warburgs Atlas handelte es sich um eine Montage von Zitaten, die jedoch deutlicher als bei diesem von der zeitgenössischen Avantgarde beeinflusst war. Bei seinen wenigen expliziten Reflexionen zur Karte lässt Benjamin durchgängig erkennen, dass er ihre imperiale Funktion, die sich auf ein Welt- wie ein Geschichtsbild gleichermaßen richtet, zu unterlaufen gedenkt. Er nutzt den heuristischen Aspekt der Karte sowie die Polysemie des Wortes, um die Aufmerksamkeit auf den sich entziehenden „Grund“ der Karte zu lenken: die Spielkarte und ihre Wahrsagefunktion stehen seinen Betrachtungen über die geographische Karte Pate; die Karte bzw. der Plan werden vom Flaneur – deutlicher noch als bei Hessel oder Kracauer – dazu verwendet, sich zu verirren. In Frage steht dabei stets auch der (Karten)Grund. Schon in seiner frühen Schrift über Hölderlin führte Benjamin an, dass die relationalen Elemente gegenüber der Relation keinen Vorrang haben. Eine später deutlich formulierte Konsequenz daraus ist, dass das „Bild“ sich nur noch um den Preis einer geschichtlichen Konstruktion im Medium der Schrift zu einer Kartographie, einem Weltbild zusammenfügt. Benjamins Orts-Verzeichnungen sind vom mythischen Raum der Surrealisten inspiriert, aber auch gegen ihn entwickelt. Von Benjamin verläuft eine unterirdische Traditionslinie bis zur Psychogeographie der Situationisten, und von da über Henri Lefebvre bis zur kritischen Kartographie.
Die zu untersuchende These lautet also, dass sich auch in der methodologisch motivierten Evokation der Karte die ihr eigene epistemische Verunsicherung manifestiert, anders gesagt, dass sich kartographische Angst über die Metapher überträgt. Bei Braudel, Rosenzweig, Warburg und Benjamin liegen jeweils verschiedene Strategien vor, auf die Attraktivität der Karte als darstellendes Mittel einerseits einzugehen, als diese Anwendung ambivalent zu widerrufen (Rosenzweig, Braudel) oder sie ins Extrem zu führen (Warburg, Benjamin). Statt also exemplarisch kulturwissenschaftliche Umgänge mit der Karte aufzuzeigen, erscheint die Metaphorisierung der Karte als Ausdruck der kartographischen Angst.
Überlegungen zur Methodik
Der prinzipielle Ansatz des Projekts, zu dem schon etliche Vorarbeiten in Artikelform existieren, besteht darin, die Einwände der kritischen Kartographie für die Ideengeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fruchtbar zu machen. Aus dieser von den Weltkriegen flankierten Periode sind Autoren ausgewählt worden, die nachträglich in die Wissenstradition der kontinentalen Kulturwissenschaften eingereiht worden sind und deren Werke sich als „Kartographien“ deuten lassen, wobei die Untersuchung sich jedoch auf die Ambivalenzen dieser Zuschreibung konzentriert. Statt auf die Vollständigkeit eines Panoramas setzt das Projekt dabei auf paradigmatische Repräsentanz. In einem zweiten Schritt wird es dann möglich, die kulturwissenschaftliche Praxis des „Mapping“ einer Kritik zu unterziehen, insofern sie metaphorisch auf Kartographie rekurriert.
Anstelle dabei auf Metapherntheorien der kognitiven Psychologie (Lakoff und Johnson) oder der Wissenssoziologie (Weingart und Maasen) zurückzugreifen, wird dem Projekt der Metaphernbegriff Hans Blumenbergs zugrundegelegt, dessen Ansatz in ideengeschichtlicher Absicht auf die Moderne gerichtet ist. Auch wenn man nicht den anthropologisch-vernunftkritischen Implikationen Blumenbergs folgt, erlaubt es seine Theorie der Vor- und Unbegrifflichkeit, die verräumlichende und geschichtsprägende Leistung der Metapher zusammenzudenken.
Obwohl Ideengeschichte größere Linien aufzeigen und auf Synthesen abzielen soll, ist zumindest der den vier Autoren gewidmete Teil auf philologische Arbeit nah an den jeweiligen Texten angewiesen. Diese ist unumgänglich, da keiner der behandelten Autoren explizit eine eigene Theorie der Karte oder Kartographie vorlegt. Die Bezüge auf kartographische Darstellungsformen sind zum einen erst einmal aus den Texten herauszupräparieren (Analyse) und zum anderen mit expliziten Kartenbezügen aus ihrem intellektuellen und geschichtlichen Umfeld zu konfrontieren (Kontextualisierung). Der Umstand des Latenten ist dabei wesentlich, insofern er Ambivalenzen im Verhältnis zu kartographischen Erkenntnisbedingungen anzeigt. Um diese zu profilieren, sollen begriffliche Werkzeuge der heutigen Kulturwissenschaft oder der kritischen Kartographie eben nicht auf die ausgewählten Texte aus der Zeit von 1914 bis 1949 angewendet, sondern ihre Präfigurationen ermittelt werden. Aktuelle Begriffsbildungen sind für die Motivierung der Arbeit wesentlich, ihre kritische Durchleuchtung wird jedoch nicht in den den Autoren gewidmeten Kapiteln stattfinden, sondern Einleitungs- und Schlussteil vorbehalten sein.
So wird viel davon abhängen, die jüngere Prägung der „cartographic anxiety“ vorübergehend von den heutigen Theoriedebatten lösen und sie in einer historisch jeweils spezifischen Form in den gewählten Werken nachweisen zu können. Zu dieser methodologischen ‚Entwendung‘ gehört auch die Übersetzung des englischen Konzepts: „anxiety“ ist freilich nicht nur Angst, sondern auch Ängstlichkeit, Besorgnis und Unbehagen, aber diente seinerzeit zur Übersetzung des freudschen Angstbegriffs, der jedoch in der heutigen Diskussion der „cartographic anxiety“ eine untergeordnete Rolle spielt – und das, obwohl die Begegnung von psychoanalytischer Filmtheorie und kartographischer Theorie für beide Felder höchst fruchtbar war (Conley, Castro).
Kartographische Angst ist nicht zuletzt die Auswirkung der Feststellung, nicht nur vor, sondern stets auch „in“ der Karte zu sein. Die Karte, aufgefasst als Repräsentation, markiert die Schnittstelle zwischen dem Innen einer Psyche und eines erkennenden Intellekts und dem Außen der Welt – nicht nur der physisch-räumlichen. Schirm, Projektionsfläche und durchlässiger Übergang zugleich, tritt die Karte auf den Plan, wo es um die mentale Erfassung von etwas Unbekanntem oder Äußerem geht, wobei dieses Äußere durch die Lokalisierungsgeste des Kartographen wie auch des Kartenbetrachters nachdrücklich erschaffen wird. „Innere“, kognitive Karten – deren Status denen von Kartenmetaphern angenähert werden kann – stellen also Verinnerlichungen des radikal Äußeren, Fremden, potentiell Unsichtbaren dar und werden daher auch mit Diskursen von Krankheit und Kontamination in Verbindung gebracht (Dünne, Mitchell).
Ein Nebenergebnis des Forschungsprojekts ist, dass Entscheidendes schon seit den 1920er Jahren vorweggenommen wurde: die Auflösung der „traditionellen“ Karte, wie Caquard und Taylor sie angesichts der „cinemaps“ auf die Zwischenkriegszeit datiert, fand nicht in der geographischen Karte und nicht erst dank „web 2.0 mapping“ statt, sondern bereitete sich lange vor. Die untersuchten Autoren erscheinen jedoch nicht als Urheber-Figuren, sondern als Überträger. Auch in dieser Hinsicht ist der Umstand bedeutsam, dass sie sich allesamt, wenn auch auf verschiedene Weise, auf Inszenierungen von Wort-Bild-Verhältnissen der frühen Neuzeit beziehen. Metaphorisierung, an so prominenter Stelle wie der History of Cartography aus Kartendefinitionen ausgegrenzt, erscheint somit als das, was ihren Wandel und ihre kritische Öffnung gewährleistet.
Wünschenswert wäre im Anschluss an das skizzierte Vorhaben, die Kritik der kartographischen Metapher kollektiv und interdisziplinär – d.h. mit Historikern der Kartographie, Kulturwissenschaftlern, historischen Semantikern bzw. Metaphorologen, kognitiven Psychologen, Linguisten, Bild- und Medienwissenschaftlern – im Rahmen eines internationalen Projekts fortzuführen.