Leben am Centre

Ein interdisziplinäres Seminar zur Disziplinlosigkeit des urbanen Raumes

24. April 

Bahar Şen und Caroline Garrido, zwei Forscherinnen am Centre Marc Bloch, haben letztes Jahr ein Seminar zum Thema der Disziplinlosigkeit des urbanen Raumes konzipiert und durchgeführt. Vorstellung des Projekts im Rahmen des Dossiers "Geografie und Raum" der aktuellen Newsletter.

Dezember 2016

Bahar Şen ist zu diesem Zeitpunkt seit einigen Monaten am Centre Marc Bloch und hat vor wenigen Tagen im Rahmen des Schwerpunkts Erfahrungen der Globalisierung über das Thema „Jenseits des Strukturalismus: Mondialisierung und Urbanität bei Henri Lefebvre“ referiert. Ich treffe mich mit ihr, ein Seminarprojekt im Kopf, das seit (viel zu) langer Zeit in mir schlummert. So wie ihre Interessen gelagert sind und angesichts der Autoren, die sie heranzieht, scheint mir, dass wir gemeinsam etwas auf die Beine stellen könnten. Wir kennen uns noch nicht, aber bereits nach wenigen Gesprächen haben wir uns beide auf das Projekt eingelassen: gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und einander zunächst zu verstehen, einen Projektentwurf zu verfassen, ihn genehmigt zu bekommen, den Kurs vorzubereiten und schließlich das Seminar abzuhalten. Dieser Artikel rekapituliert eine facettenreiche, nicht ganz selbstverständliche Erfahrung, interdisziplinären Austausch und Praxis, gepaart mit einer Begegnung mit Studierenden der Humboldt Universität Berlin, die wir in unsere Überlegungen und dieses Forschungserlebnis involviert haben.

An der Grenze zwischen den Disziplinen

Bahar Şen, heute wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre Marc Bloch, ist Philosophin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Stadt, einem Forschungsgegenstand, welcher weder klassisch für ihre Disziplin ist, noch akademischen Niederschlag findet. Sie verortet ihn in der Kulturphilosophie und möchte sich diesem für die Sozialwissenschaften alltäglichen Thema mit dem Hintergedanken annähern, es für die Philosophie relevant zu machen. Ihre Überlegungen verweisen auf den Autor von Das Recht auf Stadt, Henri Lefebvre, für den „nur die Philosophie und der Philosoph eine Totalität bieten: die Suche einer allumfassenden Leitidee oder einer Vision“. Auch die Philosophie des Geldes von Georg Simmel, ein weiterer, in ihrer Forschung besonders präsenter Autor, fußt auf einer universellen Vision. Caroline Garrido betreibt eine „bodenständige Geschichte“. Sie nähert sich der Stadt in einem völlig anderen Kontext, der Gestaltung und der Aneignung von Bezirken im geteilten Berlin, und dies anhand einer Untersuchung verschiedener Kieze. Auch sie zieht für ihre Forschung Henri Lefebvre, insbesondere seine Unterscheidung zwischen wahrgenommenem, erdachtem und gelebtem Raum, heran. Innerhalb dieser Forschung erlauben ihr der Raum und damit verbundene Praktiken, das historische Ereignis (neu) zu denken, ebenfalls ein Ansatz, der für ihre Disziplin nicht selbstverständlich ist. Gesamtheitlicher Ansatz und universalistisches Denken der einen, Erforschung individueller Alltagspraktiken bei der anderen. Bei uns beiden ist nichtsdestotrotz der Wille vorhanden, eine andere Lesart des urbanen Raumes anzubieten und die von den Disziplinen gesetzten Grenzen zu verlagern.

Die Lektüre als Brücke zwischen den Disziplinen

Sobald wir unsere Zusammenarbeit begonnen hatten, prägten sich uns einerseits die Verwandtschaft unserer Forschungsthemen, andererseits die abgrundtiefen Diskrepanzen zwischen unseren Forschungsansätzen und Interpretationen ein. Wir konnten versuchen, dies als konstruktiv und positiv zu begreifen, und uns sagen, dass unsere Ansätze komplementär seien. Tatsache ist aber, dass unsere jeweiligen Forschungsprojekte in Parallelwelten leben, auch wenn sie dieselben Bereiche behandeln. Ohne diesen Kurs und die so dargebotene Chance, hätten wir uns wohl noch lange Zeit gegenseitig ignoriert. Das Marc-Bloch-Seminar wurde zum Ausgangspunkt gemeinsamer Reflexionen und, über die erwarteten konkreten Ergebnisse – der Kurs selbst sowie der Austausch mit den Studierenden – hinaus, eine Gelegenheit, uns in Forschungsbereiche zu wagen, welche sich in unseren Disziplinen mit ihren Codes, Gepflogenheiten und Erwartungen nur allzu leicht umgehen lassen. Es war von Anfang an gerade nicht unser Anspruch, ein vollständig vorgefertigtes Seminar über den urbanen Raum anzubieten. Es schien uns wesentlich realistischer und interessanter, uns und den Studierenden interpretatorischen Freiraum zu lassen. Wir arbeiten und lesen nicht auf die gleiche Art. Unser Blick und unser Interesse richten sich nicht auf die gleichen Elemente, wenn wir einen Text durchgehen. Für alle Forschenden ist die Lektüre alltägliche Routine, so dass die Mechanismen, auf denen sie basiert, (fast) unsichtbar werden. Die Gegenüberstellung unserer Lesarten bedeutete, dass diese Mechanismen wieder lesbar, sichtbar und hinterfragbar wurden. Diese Praxis, zunächst zu zweit, später mit den Studierenden, gestattete uns, zu beobachten, inwiefern andere Lesarten diese Gewohnheiten beeinflussten und störten. Der Dialog, welcher sich zwischen uns um die Texte herum entspann, entwickelte sich langsam zu einer bewussten Destabilisierung mit dem Ziel, neues Wissen hervorzubringen bzw. neue Überlegungen zum urbanen Raum anzustellen.

Von der Theorie zur Praxis: ein Seminar bei den KuWis 

Mehrere Monate vor Beginn des Seminars begannen wir, die Klassiker gemeinsam (wieder) zu lesen. Unsere Treffen am Mittwochabend im Germaine-Tillon-Saal im 8. Stock wurden zu einem Ritual. Aufgrund dieser Lektüre schlugen wir den Studierenden fünf Themenblöcke zum urbanen Raum vor: Urbanisierung und Moderne, Materialität und Architektur, urbane Räume und Partizipation, sinnliche Erfahrbarkeit des urbanen Raumes, Urbanisierung und Globalisierung. Wir sahen uns engagierten Studierenden gegenüber, die oft gewagte Analysen vorschlugen und kühne Parallelen zogen: Alle von ihnen brachten ihre eigenen Lektüren und Erfahrungen ein, aus denen sich dann die Debatte speiste. Es war unser Wunsch, dass die Studierenden eine eigene, persönliche Lesart der Texte entwickelten und sich trauten, ihren Ansatz eigenständig zu vertreten. Auch wir hielten uns an dieses Prinzip, wobei unsere Meinungen oft auseinander gingen. Diese klaren Spielregeln brachten die Studierenden nicht aus dem Konzept: Die von uns als Chance begriffenen Dissonanzen existieren in den Kulturwissenschaften, wo die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Disziplinen weniger eine Rolle spielen, zuhauf. Über die Themenblöcke hinaus erlaubten uns zahlreiche Texte und Autoren, ob Eli Rubin, Rem Koolhaas oder Lewis Mumford, die Frage nach der Funktionalisierung und der Aneignung des urbanen Raums. Gemeinsam mit den Studierenden beschlossen wir außerdem, den nahen und doch sogar Berlinern unbekannten Stadtbezirk Marzahn zu besuchen, durch den uns der erfahrene Geograf Nico Grunze mit seinem Fachwissen führte. Die Abschlussdiskussion, mit der das Seminar zu Ende ging, rückte erneut die uns beiden eigenen Ansätze, den universalistischen und den der individuellen Erfahrungen, in den Vordergrund, allerdings ohne dass sie in Widerspruch zueinander traten. Einer der Studenten vertraute uns an, dass er zu Anfang des Seminars eine mehr oder weniger präzise Vorstellung davon hatte, was der Begriff urbaner Raum einschließt, Je weiter wir mit der Lektüre vorankamen, hatte er mehr und mehr den Eindruck, dass diese Klarheit sich immer mehr auflöste. Auch wenn er nicht darauf abzielte, freute uns diese unerwartete Aussage ungemein. Sein zunächst vereinfachtes Verständnis des urbanen Raumes hatte sich in ein komplexes verwandelt. Also lächelten wir ihn an und sagten: „Willkommen in der Wissenschaft!“

 

Bahar Şen & Caroline Garrido

Foto: Marzahn-Besuch, Fortuna Park, ein Freizeitbereich für Familien inmitten der Wohnblöcke.


Kontakt:

Caroline Garrido
garrido  ( at )  cmb.hu-berlin.de